Es werde Mensch

Schöpfung

Irgendwie ist mir bei diesem Thema Michelangelos Fresco in der Sixtinischen Kapelle, speziell die Erschaffung des Menschen, in den Sinn gekommen. Würde man heute ein Bild über den Schöpfungsakt malen, dann sollte der erste Mensch aber eher eine dunkle Hautfarbe, schwarze Haare und braune Augen haben. Schließlich kam er aus Afrika. Dass er in einem Schöpfungsakt entstanden sei, könnte man dagegen durchgehen lassen, erscheint doch das Auftauchen des modernen Menschen, gemessen an den Zeiträumen, in denen sich die Evolution vollzog, wie eine Laune der Natur. Diese Laune hatte allerdings eine lange Vorgeschichte.

Die erste Art, die der Gattung Mensch zugerechnet wird, ist der Homo habilis.1) Er begann seinen Weg vor rund 2,5 Millionen Jahren, wobei sich sein Aussehen bereits deutlich von dem der äffischen Primaten unterschied. Er konnte seine Hände geschickt einsetzen und einfache Werkzeuge herstellen. Darüber hinaus war er ein guter Läufer, der es vermochte, den Wildherden zu folgen und ab und an Fleisch zu erbeuten, dessen Nährstoffreichtum seiner weiteren Entwicklung zugute kam. Ausdauerndes Laufen verbraucht jedoch viel Energie, die durch Verbrennungsprozesse freigesetzt wird. Dabei entsteht Wärme, die, soll der Körper nicht überhitzen, schnell nach außen abgegeben werden muss. Ein dichtes Fell ist da nur hinderlich. Der Homo habilis entledigte sich seines Pelzes und lief fortan nackt durch die Savanne. Außerdem bildete er Drüsen aus, die bei großer Anstrengung Flüssigkeit absondern, durch deren Verdunstung dem Körper Wärme entzogen wird. Mit den Haaren fiel jedoch auch der Schutz der Haut vor den harten Strahlen der afrikanischen Sonne weg. Sie bildete nun dunkle Pigmente, die einen großen Teil dieser Strahlung absorbieren.

Die läuferischen Fähigkeiten waren zur Überlebensgarantie des Homo habilis geworden. Für ausdauerndes Laufen ist ein schmales Becken von Vorteil. Durch die nährstoffreiche tierische Nahrung wurden die Homo habilis jedoch größer, auch das Gehirn nahm an Volumen zu. Der ebenfalls größer werdende Kopf, der zum Schutz des Gehirns bereits bei der Geburt eine relativ stabile Form besitzt, machte jedoch einen breiteren Geburtskanal erforderlich, der wiederum nicht mit einem schmalen Becken vereinbar war. Außerdem verbraucht so ein Gehirn viel Energie, deren Bereitstellung im Mutterleib an Grenzen stieß. Was auch immer der ausschlaggebende Grund gewesen sein mag, jedenfalls verkürzte sich die Tragezeit der Homo habilis. Damit verlagerte sich ein größerer Teil des Wachstumsprozesses in die nachgeburtliche Phase, was wiederum eine längere und aufwendigere Fürsorge für die Neugeborenen erforderlich machte. Diese Aufgabe fiel naturgemäss den Frauen zu. Während die Männer den Wildherden folgten, um tierische Nahrung zu beschaffen, blieben die Frauen im Lager, wo sie die Kinder hüteten und durch das Sammeln von Wurzeln und Früchten zur Ernährung beitrugen.

Mit dem Wachstum des Gehirns nahm das geistige Potenzial der Menschen zu. Sie waren zunehmend in der Lage, ihre Werkzeuge den Erfordernissen anzupassen und neue Jagdstrategien zu erproben. Auch das Zusammenleben in der Gruppe entwickelte sich, so dass höhere Anforderungen an die Kommunikation untereinander entstanden. Fortschritte in der Kommunikation kamen wiederum der gemeinsamen Jagd und damit der Ernährung zugute. Peu á peu ging die Entwicklung voran, manchmal machte sie wohl auch Umwege. Wie dem auch sei, vor rund 1,9 Millionen Jahren hatte sich eine neue Spezies der Gattung Mensch, der Homo ergaster, herausgebildet, die dem heutigen Menschen schon ziemlich ähnlich sah. Der Homo ergaster war ebenfalls ein ausdauernder Läufer. Außerdem war er ein zunehmend erfolgreicher Jäger, dessen Beute nicht mehr nur aus verletzten oder verendeten Tieren bestand. Der Faustkeil war sein universelles Werkzeug, das er mit großem Geschick zu fertigen und einzusetzen wusste. Er schützte seinen Körper mit Kleidern, die aus Tierfellen und Häuten gefertigt wurden. Das ganz große Ding war jedoch, dass es dem Homo ergaster gelang, das Feuer zu bändigen, das heißt, es selbst zu entfachen und zu seinem Nutzen einzusetzen. Die meisten Räuber der Nacht hatten zum Beispiel Angst vor dem Feuer, so dass man sie mit einem brennenden Scheid verjagen konnte. Außerdem spendete das Feuer Wärme, die in kalten Nächten sehr willkommen war. Es stellte sich auch heraus, dass mit seiner Hilfe die Nahrung aufbereitet werden konnte, die dadurch haltbarer und bekömmlicher wurde. Das Feuer stabilisierte also die Ernährungsbasis des Homo ergaster, was für seine weitere Entwicklung große Bedeutung erlangte.

Wenig später, was sind schon hunderttausend Jahre in den Dimensionen der Evolution, trat ein weiterer Vertreter der Gattung Mensch ins Rampenlicht, der Homo erectus. Er scheint aus Populationen des Homo ergaster hervorgegangen zu sein, die auf der Suche nach neuen Jagdgründen in Richtung Asien gewandert waren. Auch der Homo erectus war ein ausdauernder Läufer. Er ersann neue Jagdstrategien, um mehr und vielfältigere Beute zu machen. So fand man nicht nur Pfeil- und Speerspitzen, sondern auch Harpunen und Angeln, die ihm zugeordnet werden. Er benutzte Werkzeuge, die von ihm weiterentwickelt oder gar neu ersonnen wurden. Darüber hinaus fand man von ihm gefertigten Schmuck, den man als Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins ansehen kann. Die allgemein größer gewordene Bandbreite der Fertigkeiten brachte es nämlich mit sich, dass einzelne durch besondere Fähigkeiten auf dem einen oder anderen Gebiet auffielen. Sie hoben sich von anderen ab, was sie selbst durch besondere Kleidung oder durch Schmuck unterstrichen. Die soziale Struktur der Gruppen war vielschichtiger geworden, wodurch sich auch das Bedürfnis nach Kommunikation entwickelte. Immer mehr Lautkombinationen und ganze Lautfolgen wurden für die Bezeichnung der Dinge und Sachverhalte benötigt. In diesem Kontext entwickelten sich die geistigen Fähigkeiten des Homo erectus weiter, auch physische Veränderungen zur besseren Lautbildung, wie die Absenkung des Kehlkopfes, vollzogen sich.

Der Homo ergaster wie auch der Homo erectus existierten rund eine Millionen Jahre. In dieser langen Zeitspanne entstanden immer wieder Gruppen, die sich durch besondere Merkmale und Eigenschaften auszeichneten. Waren sie sich im Überlebenskampf erfolgreich, dann breitete sich ihre Population aus, so dass einige von ihnen zu eigenständigen Arten avancierten. Besondere Bedeutung für die Herausbildung des modernen Menschen erlangte der Homo heidelbergensis, der vor rund 800.000 Jahren in Afrika in Erscheinung trat. Er war ein muskulöser Jäger, der mit seinen hölzernen Wurfspeeren auch größere Tiere erlegte. Sein großes Gehirn deutet darauf hin, dass er über ausgeprägte Sinne verfügte, die ihm bei der Jagd aber auch beim Schutz vor gefährlichen Raubtieren gute Dienste leisteten. Auf ihren Streifzügen gelangten Gruppen dieser Spezies nach Europa und Asien, andere blieben in Afrika. Die Gruppen, die nach Europa kamen, fanden ausreichend Wild vor. Außerdem gab es dort deutlich weniger krankmachende Insekten, die in manchen Teilen Afrikas das Leben nahezu unmöglich gemacht hatten. Dafür mussten im Norden Klimaschwankungen mit wiederkehrenden Perioden lebensfeindlicher Kälte in Kauf genommen werden. Die Kälteperioden konnten tödlich sein, nur die stärksten hatten eine Überlebenschance. In dem daraus resultierenden Auswahl- und Anpassungsprozess entstand vor rund 200.000 Jahren die Spezies der Neandertaler.1)

Der Neandertaler war noch muskulöser und stämmiger als seine Vorfahren. Die große Körperkraft gepaart mit ausgeprägten Sinnen ließ ihn zu einem erfolgreichen Großwildjäger werden. Auch seine handwerklichen Fähigkeiten waren beachtlich. Der Neandertaler stellte Werkzeuge, wie Faustkeile, Schaber, Spitzen und längliche Klingen, her, die er dem jeweiligen Verwendungszweck anpasste.2) Er bearbeitete Tierfelle und fertigte daraus Kleidung und Decken, um sich vor der Kälte zu schützen. Außerdem gilt der Neandertaler als Erfinder des Klebstoffs. Er benutzte Birkenpech, um damit Steinspitzen an Speeren zu befestigen. Mit diesen Waffen konnte er sogar Mammuts attackieren. Die Großwildjagd erbrachte viel Fleisch, das er über lange Zeit genießbar halten konnte, hatte er den Kühlschrank doch quasi vor der Haustür. Die Großwildjagd war allerdings auch ein gefährliches Unterfangen, denn aus Verletzungen konnten dauerhafte körperliche Schäden entstehen. Diese insgesamt schwierigen Lebensbedingungen schlugen sich in einer relativ geringen Lebenserwartung der Neandertaler nieder. Daher waren die sozialen Gruppen, in denen sie lebten, eher klein. Sie beschränkten sich meist auf die engere Familie.

In Afrika ging aus dem Homo heidelbergensis ebenfalls eine neue Art hervor, der Homo sapiens. Auch er hatte mit den Unbilden der Natur zu kämpfen. In Afrika waren es wiederkehrende Dürreperioden, die dazu führten, dass nur diejenigen eine Überlebenschance besaßen, die in der Lage waren, ausreichend tierische Nahrung zu erbeuten. In der Savanne war dazu allerdings nicht so sehr ein Zuwachs an körperlicher Kraft gefragt, als vielmehr eine weitere Verbesserung der läuferischen Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund griffen genetische Veränderungen Raum, die den Homo sapiens zu einem überaus ausdauernden Läufer werden ließen.3) Er war in der Lage, Wild bis zur Erschöpfung zu hetzen. Außerdem war er gewitzt genug, sich im vorhinein Depots mit Wasser und Nahrung anzulegen, die ihm bei langen Verfolgungsjagden halfen. Jedenfalls kann man noch heute bei einigen afrikanischen Stämmen ein ähnliches Verhalten beobachten. Ausdauer und geistige Flexibilität waren aber nicht nur für die Jagd von Bedeutung, sie waren auch wichtige Voraussetzungen, um anderen Jägern, wie schnellen und wendigen Raubkatzen, zu entkommen. Mitunter war es erforderlich, blitzschnell auf eine gefahrvolle Situation zu reagieren, um sein Leben zu retten. Seine geistige Beweglichkeit verhalf den Homo sapiens auch zu neuen Ideen für die Verbesserung der Waffen und Werkzeuge. Darin waren sie ihren Vettern im kalten Europa voraus. Gemeinsam war ihnen der Drang zur Wanderschaft, der aus der stetigen Suche nach jagdbarem Wild erwuchs. Während die Neandertaler dabei weite Teile Asiens erkundeten, verbreiteten sich die Homo sapiens über den afrikanischen Kontinent, bevor sie vor rund 125.000 Jahren in den Nahen Osten vordrangen. Von dort verschlug es sie nach Asien, Australien und nach Europa, wo sie Gebiete, aus denen andere Menchenarten verschwunden waren, besetzten.

Wieso aber konnten die Homo sapiens während der Eiszeit nach Europa einwandern und dort überleben, obwohl sie als Afrikaner doch eigentlich nicht für dieses Klima geschaffen waren? Und wieso überlebten die Neandertaler, die doch eigentlich perfekt den klimatischen Bedingungen angepasst sein sollten, diese Zeit nicht? Die Neandertaler waren zwar gut an die rauen klimatischen Verhältnisse des Nordens angepasst, trotzdem machten ihnen die Klimaschwankungen und vor allem die drastischen Kälteeinbrüche schwer zu schaffen. Sie waren kräftige Jäger, aber ihre Muskeln wie auch ihr großes Gehirn verbrauchten viel Energie. Wurde die Jagd schwieriger, weil Teile des Wilds einen Kälteeinbruch nicht überlebt hatten oder davongezogen waren, dann wurde es auch für die Neandertaler eng. Ihre Energiebasis und damit auch ihre Überlebenschancen schwanden dahin. Immer wieder wurde die Population dezimiert und in einzelnen Gebieten sogar gänzlich ausgelöscht. Man geht davon aus, dass selbst in besten Zeiten höchstens 70.000 ihrer Art in den Weiten des Nordens von Spanien bis Sibirien unterwegs waren.2) In schlechten Zeiten mögen es deutlich weniger gewesen sein, die in kleinen Gruppen und mit wenig Kontakt untereinander umherzogen. Unter solchen Umständen konnte schon das unglückliche Aufeinandertreffen mehrerer lebensfeindlicher Faktoren zum Erlöschen der gesamten Population führen. Dies war offensichtlich vor rund 39.000 Jahren der Fall.

Aber da ist immer noch die Frage, wieso die Homo sapiens dort überleben konnten, wo die Neandertaler ausstarben. Während die Neandertaler für die Großwildjagd starke Muskeln und scharfe Sinne entwickelt hatten, die viel Energie verbrauchten, besaßen die Homo sapiens als ausdauernde Läufer einen eher schmalen Körperbau, der deutlich weniger Energie benötigte. Sie waren zur Deckung ihres Bedarfs nicht auf die Großwildjagd angewiesen. Kleinere Tiere, ergänzt durch pflanzliche Kost, konnten durchaus ihren Energiehunger stillen. Allerdings, wer weniger verbrennt, produziert auch weniger Wärme und friert schneller. Diesen Nachteil glichen die Homo sapiens durch bessere Kleidung aus. Außerdem beherrschten sie das Feuer perfekt. Sie nutzten es nicht nur als Wärmequelle sondern auch zur vielfältigen Aufbereitung der Nahrung. Es wurde nicht nur Fleisch gegart, auch Pflanzen und deren Früchte, darunter solche, die sonst nur schlecht oder gar nicht für die Ernährung nutzbar waren, konnten zubereitet werden. Und sie brachten Neuerungen, wie die Gärung, mit, so dass die Kost alternativreicher wurde, mitunter wohl auch berauschend war. Insgesamt verhalf ihnen ihre geistige Beweglichkeit zu Vorteilen im Überlebenskampf.

Waren die Homo sapiens intelligenter als die Neandertaler, obwohl ihr Gehirn doch offensichtlich kleiner war? Das geistige Potenzial einer Art wird im wesentlichen aus zwei Quellen gespeist, aus den Fähigkeiten zur Gewinnung und Verarbeitung von Informationen und aus dem zugänglichen Fundus an Erfahrungen. Grundlage für geistige Prozesse sind die aus der Umwelt gewonnenen Informationen. Mag sein, dass die Neandertaler leichte Vorteile ob der Schärfe ihrer Sinne besaßen, doch in Bezug auf die ihnen möglichen Wahrnehmungen sollten die Gemeinsamkeiten der Arten überwogen haben. Auch die Art und Weise mit der Informationen verarbeitet werden, das Vermögen zur Abstraktion und Kombination, ist bei beiden Arten wohl ähnlich ausgeprägt gewesen. Höhlenmalereien zeugen jedenfalls davon, dass auch die Neandertaler durchaus über diese Fähigkeiten verfügten. Gleiches gilt für die grundsätzliche Fähigkeit zur Speicherung und Weitergabe von Erfahrungen. Wenn sie sich in ihren geistigen Fähigkeiten aber so wenig unterschieden, worin war dann die intellektuelle Überlegenheit der Homo sapiens begründet?

Der entscheidende Unterschied zwischen den Arten entstand durch die sozialen Verbünde, in denen sie lebten. Die Neandertaler zogen in kleinen, auf die engere Familie beschränkten Gruppen durch die Lande, wobei sie nur selten auf ihresgleichen trafen. In diesen, auf die gemeinsame Jagd fokussierten Gemeinschaften entstanden wenig Anreize zur Entwicklung der Kommunikation. Die Gruppen der Homo sapiens waren dagegen immer größer geworden, nicht zuletzt, weil die gesamte Population wuchs. Dieses Wachstum fußte auf einer breiteren Ernährungsbasis, die eine schnellere Geburtenfolge ermöglichte. Außerdem nahm die Lebenserwartung der Individuen zu, vor allem weil sie sich besser zu schützen vermochten und weil sie nicht auf die gefährliche Großwildjagd angewiesen waren. In den größer werdenden Gemeinschaften fanden sich naturgemäss auch öfter Individuen, die über besondere Fähigkeiten verfügten und die mit ihren Kenntnissen den Erfahrungsschatz der Gemeinschaft in besonderem Maße bereicherten. Damit diese Erfahrungen dauerhaft die Lebensgrundlagen stärken konnten, mussten sie in den Gemeinschaften bewahrt, das heißt weitergegeben werden. Dadurch entstanden Anreize zur Entwicklung der Kommunikation, die ihrerseits den sozialen Zusammenhalt stärkte. Der stetig wachsende Schatz an Erfahrungen wurde zum entscheidenden Vorteil des Homo sapiens. Mit ihm konnte er auch dort überleben, wo andere Arten der Gattung Mensch keine Chance hatten. Ob er selbst beim Untergang anderer nachgeholfen hat, ist nicht erwiesen. Fakt ist aber, dass der Homo sapiens zur einzig verbliebenen Art der Gattung Mensch avancierte. Er wurde zum „modernen“ Menschen.

zuletzt geändert: 02.10.2019

Quellen:

1) Der Neandertaler, GEO kompakt Nr. 41, 2014 – Der dort skizzierte Stammbaum des Menschen wurde hier zugrundegelegt. Es sei darauf verwiesen, dass auch andere Modelle diskutiert werden.

2) Josef H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung

3) Ulrich Bahnsen, Familie Mensch, Die Zeit Nr. 39/2016 vom 15.09.2016

Quelle Artikelbild – Ausschnitt aus der Bemalung der Sixtinischen Kapelle in Rom, Michelangelo

 

Gemeinsam sind wir nicht allein

Elefanten

Die Straße scheint ja gerade noch breit genug zu sein, damit alle schön nebeneinander laufen können. Die Großen am Rand schützen die Flanken. Die Kleinen sind mittendrin, wohlbehütet. Auf diese Weise ist die Gruppe sicher. Anscheinend hat ihnen aber niemand gesagt, dass sie auch auf Autos achten sollten. Die Evolution hat nämlich irgendwann fahrende Blechschüsseln hervorgebracht, die nun die Wege unsicher machen. Das Überleben wird immer schwieriger, nicht nur für Elefanten.

Im Laufe der Evolution wuchsen die Möglichkeiten der Tiere, verschiedenartige Informationen in einen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Dazu werden die Informationen, die die Sinneszellen über die Außenwelt liefern, mit Erfahrungen abgeglichen und bewertet. Die Bewertungen spiegeln sich in Gefühlen wider, mit denen die Informationen in die Prioritätenfindung eingehen. Außerdem kommen Informationen über die eigene Befindlichkeit hinzu, denn auch Hunger, Durst oder Müdigkeit können das Verhalten beeinflussen, Krankheiten oder Schmerzen die körperlichen Möglichkeiten beschränken. Ein Reh mit einem verletzten Lauf hat keine Chance dem Wolf durch Flucht zu entkommen. Seine Entscheidung kann nur darin bestehen, sich zu verstecken und zu hoffen, dass Isegrimm nicht aufmerksam wird. Will sich das Reh verstecken, muss es eine Vorstellung von sich selbst haben. Größe und Fellfarbe müssen mit dem gewählten Versteck harmonisieren, damit es dem geübten Auge des Räubers entgeht. Mag sein, dass in diesem Fall die Kriterien für ein Versteck nicht aus der Selbstreflexion des Rehs erwachsen, sondern instinkthaft vorhanden sind. Mit der Zeit gewannen die Tiere jedoch immer mehr Fähigkeiten, die nur sinnvoll eingesetzt werden konnten, wenn auch eine Vorstellung von der eigenen Verfasstheit vorhanden war. Ist der Arm zu kurz, um an das Leckerli zu gelangen, wird sich das Äffchen nach mehreren nutzlosen Versuchen womöglich ein Stöckchen nehmen und sich mit dessen Hilfe den Happen angeln. Damit hat es etwas über seine körperliche Begrenztheit erfahren und gleichzeitig sein Verhalten darauf eingestellt.

Die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten gewinnt in einer Gruppe besondere Bedeutung. Eine Gruppe, ein sozialer Verbund, funktioniert nur, wenn jeder seine Stellung und seine Aufgaben kennt und entsprechend handelt. Das Kennen der eigenen Aufgaben schließt ein, dass man eine Vorstellung davon hat, welche Stellung die anderen im Verbund innehaben. Dazu muss man sie auseinanderhalten, das heißt man muss die anderen anhand physischer Besonderheiten, wie Geschlecht, Alter und Körpergröße oder auch nach ihrem Geruch, dem Klang ihrer Stimme oder anderen Merkmalen unterscheiden. Wenn man die anderen unterscheiden kann, dann entsteht das Bedürfnis, auch sich selbst von anderen, zum Beispiel über physische Besonderheiten, abzugrenzen. Einige Tierarten haben darüber hinaus eine recht differenzierte Vorstellung von ihrem eigenen Abbild entwickelt, so dass sie ihr Spielbild erkennen. Dieses visuelle Erkennen führt zu einer Bewertung des eigenen Bildes, und sei es drum, dass da ein ärgerlicher Fleck auf dem Federkleid ist, der da nicht hingehört. Neben äußeren Merkmalen spielt auch die Körperkraft eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung der Akteure. Sie kann für die Stellung in der Gruppe sogar entscheidend sein, denn der stärkste wird Chef, dem alle anderen Gehorsam schulden. Auf diese Weise bildet sich eine Hierarchie heraus, die zu einem wichtigen Merkmal des Lebens der Gruppe wird. Sie hilft, das erforderliche Zusammenwirken zu sichern, außerdem befördert sie die natürliche Auslese, da es dem Chef vorbehalten ist, seine Gene weiterzugeben.

Die Entstehung sozialer Gruppen ist eng mit der Entstehung des Gedächtnisses und der Herausbildung von Entscheidungsprozessen verbunden. In diesem Sinne sind Fischschwärme oder Insektenstaaten keine sozialen Gruppen. Ihr Verhalten wird durch ererbte Automatismen des Handelns bestimmt, eine Bewertung von Situationen oder Verhaltensweisen findet nicht statt. Dinosaurier waren dagegen bereits in der Lage, komplexe Situationen zu erfassen und Entscheidungen zu Handlungsalternativen herbeizuführen. Die soziale Struktur ihrer Gruppen war zwar, soweit man weiß, gering ausgeprägt, trotzdem verschaffte ihnen die Gemeinschaft Vorteile im Überlebenskampf. Mit der Gruppe fand man schneller Wasser oder Nahrung beziehungsweise man konnte sich wirksamer gegen Angreifer verteidigen. Um die Vorteile, die eine Gemeinschaft bieten kann, auszuschöpfen, mussten sich die Akteure irgendwie untereinander verständigen, das heißt, Mittel zur Kommunikation entwickeln.

Nach der großen Katastrophe und dem Untergang der Dinosaurier traten Säugetiere und Vögel deren Erbe an. Vögel bilden sehr unterschiedliche Zweckbünde. Wir beobachten zeitweise oder dauerhafte Brutpaare genauso wie Fluggemeinschaften in entfernte Weltengegenden oder Gruppen, die in einem gemeinsamen Lebensraum den Nachwuchs behüten. Hierarchien spielen in diesen Gemeinschaften kaum eine Rolle. Das sieht bei den Säugetieren anders aus. Zwar sind die sozialen Gruppen der Säugetiere ebenfalls vielgestaltig, es entstanden kleine Familienverbände genauso wie große Herden, aber eine Rangordnung ist in ihnen die Regel. Zum Anführer einer Herde schwingen sich meist die stärksten Tiere auf, mitunter auch die klügsten. Sie stehen für eine längere Zeit an der Spitze der Hierarchie. Wenn es dagegen in Vogelschwärmen notwendig wird, dass ein Tier die Führungsrolle übernimmt, dann wechseln sich die Tiere in dieser Aufgabe ab. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass die Verantwortung der Entscheidungsfindung an den Anführer abgegeben wird, obwohl jedes einzelne Tier fähig wäre, Entscheidungen zu treffen. Sehr eindrucksvoll lässt sich dies bei Pferden beobachten, die am liebsten blind dem Leittier folgen. Signalisiert dieses eine Gefahr, rennen alle los, als wären sie selbst gerade gebissen worden. Herdentrieb soll allerdings auch bei Menschen schon beobachtet worden sein.

Mit der Zunahme der geistigen Fähigkeiten wurden auch die sozialen Beziehungen in den Gruppen vielschichtiger. Das Zusammenleben basierte nun nicht mehr nur auf der Unterordnung unter ein Leittier, es bildeten sich darüber hinaus unterschiedlich gefärbte Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aus. In solchen Gruppen werden die einzelnen von den anderen nicht nur erkannt, sondern ihnen wird unabhängig von der Rangstellung auch eine Bewertung beigegeben. Diese Bewertung drückt sich in einem Gefühl aus, das mit dem jeweiligen Individuum verbunden wird und dadurch das Verhalten zu ihm beeinflusst. Mit einigen pflegt man engeren Kontakt, weil man sie mag, anderen geht man lieber aus dem Wege. Die Bewertung, die dem einzelnen beigegeben wird, kann durch die eigene Lebenserfahrung, durch Vorlieben oder auch durch besondere Erlebnisse beeinflusst sein. Hat jemand in einer schwierigen Situation geholfen oder Schutz gewährt, dann wird dieses Erlebnis die Beziehung des Betreffenden zum Helfer prägen. Das damit verbundene Gefühl könnte man als Dankbarkeit beschreiben. Aber auch Zorn über erfahrene Nichtachtung, Neid auf den Erfolg des anderen oder Abscheu als Ausdruck völliger Ablehnung können solche besonderen Beziehungen ausdrücken. Die Einschätzung, die mit anderen verbunden wird, ist aber nicht nur durch eigene Erlebnisse bestimmt, denn auch andere haben Erfahrungen mit diesem und jenem, die sie nur allzu gern weitergeben. Die Weitergabe einer Bewertung kann bereits durch das Verhalten dem Betreffenden gegenüber erfolgen, da es von anderen beobachtet wird. Umgekehrt, lassen sich aus dem Verhalten der anderen Schlüsse zur eigenen Stellung in der Gruppe ziehen. Bewertungen werden aber auch auf direktem Wege kommuniziert, zumal auf diese Weise gezielt Einfluss auf das Verhalten der Gruppe genommen werden kann.

Wahrscheinlich sind die nach und nach erreichten Fortschritte in der Kommunikation auf die Erfordernisse des Zusammenlebens zurückzuführen, manche sind allerdings der Meinung, dass der Drang nach Klatsch und Tratsch dafür entscheidend war. Wie dem auch sei, die Mittel zur Kommunikation wurden im Laufe der Evolution vielfältiger. Begonnen hatte alles mit Botenstoffen, die bereits von den Einzellern genutzt wurden, um Kollonien zu bilden. Botenstoffe sind auch für Pflanzen das vorherrschende Kommunikationsmittel. Tiere können sich darüber hinaus durch Bewegungen verständigen. Bei Bienen beobachtet man zum Beispiel, dass sie sich mit einem „Tanz“ auf Nahrungsfundorte aufmerksam machen. Diese Kommunikation beruht darauf, dass ein bestimmtes Verhalten mit einer festgelegten Bedeutung verbunden ist. Diese Bedeutung muss die Biene nicht erlernen, dieses „Wissen“ ist in ihren Genen verankert.

Den Tieren, die auf im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen zurückgreifen können, eröffneten sich neue Möglichkeiten, was nicht heißt, dass auf bereits bewährte Mittel der Kommunikation verzichtet wurde. Botenstoffe werden zum Beispiel weiterhin genutzt, um bestimmte körperliche Dispositionen zu signalisieren. Ist der Körper der Hirschkuh zur Empfängnis bereit, setzt er einen Stoff frei, der, so er vom König des Waldes registriert wird, bei diesem Paarungsdrang auslöst. Auch Bewegungen, die instinktiv verstanden werden, bleiben im Repertoire. Dass das Schwanzwedeln mit erhobener Rute eine freudige Erregung ausdrückt, braucht der junge Hund nicht zu lernen, es gehört zu seinem ererbten Wissen. Dass der aufgestellte Schwanz der Katze nichts mit freudiger Erwartung zu tun hat, kann er dagegen nur schwerlich begreifen. Schmerzhafte Erfahrungen werden ihn lehren, solchen Tieren tunlichst aus dem Weg zu gehen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses erlangt die Kommunikation jedoch größere Flexibilität, da die Laute und Gesten wie auch die Körpersprache und die Mimik nun je nach Situation variiert werden konnten. Diese Flexibilität hatte aber einen Preis, denn die Bedeutung der immer vielfältiger gewordenen Laute und Gesten konnte nicht mehr vererbt werden, man musste sie erlernen.

Das Lernen, das heißt die Übernahme von Erfahrungen und Wissen, gewann für das Leben der Gemeinschaften insgesamt größere Bedeutung. Lernen kann man zum Beispiel durch das Nachahmen von Handlungen. Sieht die junge Katze, wie die Mutter eine Maus jagd, wird sie versuchen, es ihr nachzutun. Mit dem Nachahmen entsteht eine eigene Erfahrung, die vom Gedächtnis bewahrt wird. Erfahrungen können auch durch das gezielte Vorspielen eines Geschehens weitergegeben werden. Auf diese Weise kann für den Lernenden das gute Gefühl des Erfolgs einer Handlung wie auch das unangenehme einer Niederlage erfahrbar werden, auch wenn er selbst nicht am Geschehen beteiligt war. Im Alltag kann man das erforderliche oder erwartete Verhalten allerdings nicht jedes Mal vormachen, um jemanden zu einer entsprechenden Handlung zu bewegen. Die dafür notwendige Zeit wäre schlicht nicht vorhanden. Für die Verständigung zu den täglichen Anforderungen und Notwendigkeiten braucht man Signale, die ein bestimmtes Verhalten einfordern. Diese Signale muss man kennen, also irgendwann erlernt haben, damit sie abgerufen werden können. Einen Hund kann man zum Beispiel trainieren, dass er Befehle in Form von Lautfolgen oder Gesten erkennt und das erwartete Verhalten abliefert. Das ist möglich, weil die Fähigkeit, Zeichengebungen oder Laute mit einem bestimmten Verhalten zu verbinden, in der Natur des Hundes angelegt ist. Sie spielt offensichtlich auch bei der Kommunikation im Rudel eine Rolle.

Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben des einzelnen wuchs auch der Stellenwert der sozialen Beziehungen für die Beurteilung einer Situation. Die sozialen Beziehungen wurden neben der natürlichen Umwelt und dem eigenen Körper zur dritten Wirklichkeit, mit der man sich bei seinen Entscheidungen auseinandersetzen musste. Welch hohen Stellenwert die Gruppe für den einzelnen haben kann, lässt sich bei Menschenaffen sehr gut beobachten. Ähnliches gilt sicher auch für unsere Vorfahren, deren Entwicklung nicht nur durch die Fertigung von immer besseren Werkzeugen und eine beginnende Arbeitsteilung gekennzeichnet war, sondern auch durch die zunehmende Vielfalt, mit der sie untereinander kommunizierten. Parallel dazu wurden die sozialen Beziehungen in ihren Gemeinschaften vielschichtiger. Sie waren nun häufig von Sympathien oder Antipathien geprägt, so dass gleiche Ereignisse eine unterschiedliche Bewertung erfahren konnten, abhängig davon, wen sie betrafen. Das Missgeschick eines anderen konnte Mitgefühl auslösen, wenn dieser andere zu den Freunden zählte, oder Schadenfreude, wenn dies eher nicht der Fall war. Der Verlust eines Nahestehenden war ein schmerzliches Ereignis, der Tod eines Gegners wurde möglicherweise als Triumph empfunden.

Die sozialen Beziehungen nehmen auch auf die Gefühle, die mit der Reflexion eigener  Entscheidungen verknüpft sind, Einfluss. Eine solche Reflexion kann beispielsweise Zufriedenheit oder Ärger, vielleicht auch Bedauern auslösen. Mit „Bedauern“ wird ein Gefühl bezeichnet, das aus einem Misserfolg resultiert und zur Infragestellung der vorausgegangenen Entscheidung führt. Damit kann es einen Lernprozess befördern. Falls die Handlung nicht nur kein Erfolg war, sondern sogar Nachteile brachte, dann kann es sein, dass es nicht bei dem Bedauern bleibt, sondern dass auch „Ärger“ entsteht. Das heißt, das Gefühl fällt stärker aus, so dass nicht nur die Entscheidung in Frage gestellt wird, sondern die Zweifel auch auf den Entscheider zurückfallen. Falls noch jemand anderes Einfluss auf die Entscheidung genommen hatte und so den Misserfolg mitbegründete, richtet sich der Ärger oder Zorn womöglich gegen diesen. Stellte sich eine eigene Entscheidung, die andere Mitglieder der Gruppe betraf, als falsch heraus, dann wird dies meist als peinlich empfunden. Diese Pein ist ein starkes Gefühl, weil mit einem solchen Fehler die eigene Stellung in der Gruppe untergraben werden kann. Noch gravierender ist es, wenn man die Versehrtheit oder den Tod eines anderen verursacht. Diese Schuld verlangt Sühne. Aus ihr kann ein Konflikt, der die gesamte Gruppe betrifft, erwachsen.

Mit der Herausbildung eines vielschichtigen Geflechts sozialer Beziehungen entstand auch die Möglichkeit, dass nicht der Stärkste oder Geschickteste zum Anführer wurde, sondern dass insgeheim geschmiedete Bündnisse die Macht eroberten. Die Intrige trat ins Leben. Eine ihrer Besonderheiten besteht darin, dass nicht Sympathie das Kriterium für die Auswahl der Bündnispartner ist, sondern ein Kalkül, das auf Machtzuwachs zielt. Macht sichert den Zugang zur besten Nahrung und sie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Verbreitung des eigenen Samens. Sie ist mit guten Gefühlen verbunden, weshalb jedes Mittel recht erscheint, ein solches Bündnis zu schmieden. Dazu werden schon mal Pläne der anderen ausspioniert, eigene Chancen übertrieben oder Rivalen verleumdet. Die wachsenden geistigen Fähigkeiten zielten also bereits bei unseren Vorfahren nicht immer auf Nutz und Frommen der Gemeinschaft. Immerhin, die machtgierigen Ränkeschmiede bildeten auch bei ihnen nur einen Teil der Gruppe, ein anderer versuchte Streit zu schlichten und ein friedliches Miteinander zu bewahren.

zuletzt geändert: 10.09.2019

Bild: green-tiger.de

Was ist „Bewusstsein“?

wolf

Als ich dieses Bild sah, habe ich mich gefragt, ob dieser Hund gerade den Sonnenuntergang genießt und dabei so etwas wie eine romantische Stimmung verspürt. Na ja, vielleicht ist das zu „menschlich“ gedacht. Wie ist das aber mit dem Bewusstsein? Haben Tiere ein Bewusstsein und was ist „Bewusstsein“ überhaupt? Tragen wir dazu noch einmal zusammen, was wir zu den Prozessen der Informationsgewinnung und -verarbeitung herausgearbeitet haben.

Wir hatten unsere Überlegungen über die Welt mit den Wahrnehmungen begonnen. Beim Nachdenken darüber, wie unsere Sinne funktionieren, war klar geworden, dass sie uns auf verschiedene Weise Informationen zu Strukturen und Bewegungen in unserer Umwelt vermitteln. Die sinnlichen Attribute dieser Wahrnehmungen, wie Helligkeit, Farben, Geräusche, Geschmack oder Geruch, sind keine Eigenschaften dieser Strukturen und Bewegungen sondern Imaginationen des Gehirns, die uns helfen sollen, eine Situation schnell zu bewerten und daraus die erforderlichen Schlüsse hinsichtlich der Prioritäten des Handelns zu ziehen. Die Sinnesorgane, die uns die Informationen über die Umwelt liefern, sind in aller Regel in oder auf der Außenhaut platziert. Sie registrieren das Auftreffen von Atomen und Molekülen, die sie durch ihre Struktur oder durch die von ihnen ausgehenden Wirkungen unterscheiden. Andere Sinneszellen können von außen kommende Energie, also Bewegungen registrieren, die als Licht, als Schall oder als Druck daherkommen. Die jeweilige Sinneszelle löst daraufhin einen elektrischen Impuls aus, der an das Gehirn weitergeleitet wird. Der elektrisch Impuls selbst ist „neutral“, soll heißen, er trägt keine Angaben über die Art der Information, die ihn auslöste, insich. Die Differenziertheit der Informationen wird dadurch bewahrt, dass die Impulse der einzelnen Sinneszellen jeweils spezielle neuronale Strukturen im Gehirn ansprechen. Jede einzelne Sinneszelle liefert dabei nur einen Impuls, der eine festgelegte Nervenzelle im Gehirn aktiviert. Da dies viele Sinneszellen gleichzeitig tun, kommt die Information in Form einer Impulsstruktur im Gehirn an, wo sie ihre Entsprechung in den von ihnen aktivierten Neuronen findet. Die Struktur aktivierter Neuronen wird mit den neuronalen Strukturen, in denen die Erfahrungen gespeichert sind, nach Übereinstimmungen abgeglichen. Auf die Erfahrung, mit der die meisten Übereinstimmungen festgestellt werden, wird sich die aktuelle Information nun beziehen. Ihre neuronalen Netze verbinden sich, wodurch die der Erfahrung anheftende Bewertung auf die neue Information übergeht. Damit erhält die neue Information einen Sinn. Gleichzeitig wird das der Erfahrung ebenfalls anheftende Verhaltensmuster aktiviert.

Mitunter löst eine Information unmittelbar eine Aktion aus. Dann spricht man von Reflexen. Diese sind bereits in einer frühen Phase der Evolution entstanden und betreffen meist grundlegende Lebensprozesse. Für Cyanobakterien war es schon vor Urzeiten wichtig, das lebensspendende Sonnenlicht zu erkennen. Nur mit seiner Hilfe konnte die Photosynthese gelingen. Trifft dieses Licht auf einen entsprechenden Sensor der äußeren Hülle, so setzt dieser einen Botenstoff frei, der ein vorherbestimmtes Verhalten, hier die Bewegung hin zum Licht, hervorruft. Eine vorherige Bewertung der Information ist nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Auf ähnliche Weise orientieren viele Pflanzen ihr Wachstum zum Licht. Wie das Licht das „Verhalten“ einer Pflanze beeinflusst, zeigt uns die Sonnenblume sehr eindrucksvoll. Sie schaut immer zum großen Lichtspender, obwohl dieser im Laufe des Tages seinen Platz am Firmament ändert. Die Sonnenblume muss dazu keine Entscheidung treffen, dieses Verhalten ist in ihrem Erbgut angelegt.

Eine ähnliche direkte Verknüpfung von Impuls und Verhalten findet man bei Insekten. So ist es unwahrscheinlich, dass ein Käfer das Gelb einer Blüte „sieht“ und sie deshalb in Erwartung süßen Nektars zielgerichtet ansteuert. Er registriert vielmehr Licht eines bestimmten Frequenzbereichs, das sein Verhalten auslöst. Darüber muss er nicht nachdenken, es geschieht eben. Vor diesem Hintergrund wird auch die Funktionsweise der Facettenaugen, die ein Merkmal vieler Insekten sind, verständlich. Diese Augen liefern kein ganzheitliches Bild als Grundlage für eine Entscheidung, sie sammeln vielmehr Informationen über Lichtreflexionen und deren Veränderung, die dann zur Grundlage ihrer Reaktionen respektive Bewegungen werden. Auf diese Weise orten sie auch „gelbe“ Blüten und steuern diese an. Werden plötzliche Veränderungen in der Reflexion des Lichts registriert, so kann dies ein Zeichen für Gefahr sein, weswegen diese Information umgehend ein Fluchtverhalten auslöst. Es ist verdammt schwierig, eine Fliege zu erwischen, denn sie kann selbst hinterhältigen Angriffen zuvorkommen. Zwar „sieht“ sie den Angreifer nicht, sie registriert jedoch die mit seiner Bewegung verbundene Veränderung des Lichts, und dies beinahe im Rundumblick. Diese Information löst augenblicklich ihre Flucht aus.

Mit der Herausbildung von Entscheidungsprozessen auf der Basis gespeicherter Erfahrungen wurde vieles anders. Die direkte Verknüpfung von Impulsen mit einem bestimmten Verhalten wurde zwar nicht völlig aufgegeben, aber ein größer werdender Teil der Informationen muss nun erst verarbeitet und in einen Entscheidungsprozess einbezogen werden, bevor eine Handlung ausgelöst wird. Nicht zu vergessen, dass sich auch die Sinne zu komplexen Organen weiterentwickelten, die teilweise verschiedenartige Sensorzellen vereinen und dadurch eine Vielzahl von Informationen zu unterschiedlichen Aspekten der Wirklichkeit liefern. Die vielfältig entstehenden Einzelinformationen müssen miteinander kombiniert und mit Erfahrungen abgeglichen werden, damit ihnen einen Sinn gegeben werden kann. So werden zum Beispiel die von den Augen registrierten Lichtpunkte derart kombiniert, dass sich Formen bilden, die sich mit Hilfe der Erfahrungen identifizieren lassen. Im nächsten Schritt wird das auf diese Weise entstehende Bild weiterbearbeitet, zum Beispiel indem die Konturen der Objekte schärfer von der Umwelt abgegrenzt werden. Außerdem sind die Abstände zu anderen Objekten zu erfassen, damit die Orientierung im Raum möglich wird.

Mit dem Entscheidungsprozess hatte sich noch etwas anderes verändert. War bislang nur der jeweilige Reiz die Information, so ist für die komplexe Beurteilung einer Situation auch das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang. Folglich müssen beide Möglichkeiten, das Vorhandensein wie auch das Fehlen eines bestimmten Reizes, als Information in die Entscheidungsfindung eingehen. Dazu werden sie durch unterschiedliche Wahrnehmungsmuster voneinander abgegrenzt. Für das Licht heißt das, dass das Vorhandensein des Impulses als „hell“ registriert wird, das Fehlen als „dunkel“. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Intensität der Reize durch Abstufungen von hell und dunkel wiedergegeben werden. Die Informationen, die die Zapfen des Auges liefern, sind allerdings in drei Frequenzbereiche aufgeteilt, so dass eine alternative Wiedergabe nach dem Muster „entweder/oder“ nicht möglich ist. Hier verrechnet das Gehirn die Anteile der verschiedenen „Farbinformationen“ zu einem Mittelwert, dem dann ein Farbeindruck zugeordnet wird. Demnach gibt es zwei unterschiedliche Verfahren, wie den Informationen Wahrnehmungsmuster beigegeben werden. Zum einen werden sie mit Hilfe eines Gegensatzes gebildet, zum anderen können sie aus der Verrechnung unterschiedlicher Werte zu einem Mittelwert resultieren. Am Ende entsteht ein komplexes Bild, in dem die einzelnen Aspekte durch die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster unterscheidbar bleiben.

Wahrnehmungsmuster bildeten sich nicht nur für visuelle Reize sondern für alle Sinne aus. Sie sind Bestandteil der Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde, die dazu nach Sinnerorganen spezialisierte Areale ausbildete. In ihnen sind auch die mit den einzelnen Sinnen verbundenen Erfahrungen gespeichert. Die Wahrnehmungsmuster selbst könnte man vielleicht als neuronale Schablonen begreifen, in die die aktuellen Informationen, respektive die sie tragenden neuronalen Strukturen, eingefügt werden. Die den einzelnen Sinnen zugeordneten Wahrnehmungsmuster sind dabei deutlich voneinander unterschieden. Sie gehören gewissermaßen unterschiedlichen Sphären an, die wir als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen bezeichnen. Innerhalb dieser Sphären oder Wahrnehmungsmuster sind Möglichkeiten für Differenzierungen gegeben, wodurch Aspekte und Details wie Geschmacks- oder Geruchsnuancen, unterschiedliche Töne und Geräusche oder eben Formen, Farben und Helligkeiten unterschieden werden können. Darüber hinaus ist nicht nur für das Sehen das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang, auch bei anderen Sinnen wird das Fehlen des Reizes mit einem Wahrnehmungsmuster belegt. Treffen keine Schallwellen auf das Ohr, entsteht die Wahrnehmung „Ruhe“, treffen Schallwellen auf, dann bedeutet das „Geräusch“. Dieses Geräusch kann mit Hilfe verschiedener Sinneszellen weiter differenziert werden. Die Frequenz der Schallwellen wird in unterschiedlichen Tonhöhen deutlich, ihre Intensität in verschiedenen Lautstärken. Die Töne wechseln sich mit kurzen Ruhepausen ab. Die konkrete Abfolge von Tönen und Pausen lässt Rhytmen entstehen. Im Abgleich mit Erfahrungen kann unter Umständen eine Melodie identifiziert werden.

Zu den Wahrnehmungen, die aus den Impulsen der Sinnesorgane entstehen, kommen Wahrnehmungen den eigenen Körper betreffend hinzu. Das können Wahrnehmungen wie Durst und Hunger sein, die einen Mangel signalisieren, oder Schmerzen, die eine Verletzung und damit eine Gefährdung der körperlichen Möglichkeiten anzeigen. Eine weitere Gruppe von Wahrnehmungen betrifft die Gefühle. Gefühle drücken Bewertungen aus, die den Erfahrungen anheften. Wird eine aktuelle Information identifiziert, indem sie sich mit einer Erfahrung verbindet, wird das mit ihr verbundene Verhaltensmuster aktiviert und eine körperliche Empfindung, ein Gefühl erzeugt. Durch die Wahrnehmung dieses Gefühls fließt die aus der Erfahrung zugeordnete Bewertung in die Entscheidung ein. Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben jedes einzelnen erhielten auch die Informationen, die die Beziehungen in der Gruppe betrafen, ein höherer Stellenwert. Wieder sind es nicht die Informationen selbst, sondern die ihnen auf der Basis von Erfahrungen zugeordneten Gefühle, deren Wahrnehmung in die Entscheidungsfindung einfließt.

Mit den sozialen Beziehungen gewinnt noch ein weiterer Faktor Einfluss auf die Entscheidungen, das Kalkül. Das Kalkül zielt nicht in erster Linie auf die Lösung einer für das Wohl der Gemeinschaft wichtigen Aufgabe, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, die zum eigenen Vorteil gereichen. Dafür braucht man eine Vorstellung davon, worin der eigene Vorteil liegt und wie man ihn erlangen kann. Der erdachte Vorteil muss wiederum mit Gefühlen verknüpft sein, damit der Ränkeschmied voller Motivation ans Werk geht. Aber, woher erhält ein Plan, also etwas, das noch nicht stattgefunden hat, eine Bewertung in Form eines Gefühls? Eine solche Bewertung kann aus Erfahrungen entstehen, die der Planer in einer ähnlichen Situation bereits gesammelt hatte. Vielleicht war er schon einmal der engste Vertraute des Leithammels und will es wieder werden. Bewertungen können aber auch aus Beobachtungen resultieren. Man sieht doch, wie andere ihre Vorteile auskosten, indem sie die ersten an den Futtertrögen oder bei der Verbreitung des eigenen Samens sind.

Es sind also nicht nur viele sondern auch sehr verschiedene Wahrnehmungen respektive Gefühle, die in eine Entscheidung einfließen. Sie müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden, damit eine ganzheitliche Bewertung der Situation entstehen kann. Die dafür erforderliche Gesamtschau vollzieht sich in einem speziellen Areal der Großhirnrinde. Dort werden vermutlich nicht die Informationen mit ihrem gesamten Detailreichtum zusammengeführt, sondern es werden die Ergebnisse der ersten Verarbeitungsstufe, das heißt die Bewertungen, die den verschiedenen Informationen in Form von Gefühlen beigegeben wurden, zueinander in Beziehung gesetzt. Nur, wie kann das Gehirn die Gefühle gegeneinander abwägen und daraus eine Entscheidung ableiten? Eine Möglichkeit besteht darin, den Quellen, aus denen die Informationen stammen, einen unterschiedlichen Stellenwert zuzuordnen. Bei den Primaten ist die Gesamtschau in starkem Maße durch visuelle Quellen geprägt, bei Hunden ist daneben der Geruchssinn von besonderer Bedeutung, Katzen wiederum verlassen sich eher auf das Gehör. Maulwürfe sehen schlecht, ihre Entscheidungen werden durch den Tastsinn und den Geruchssinn geleitet. Auf diese Weise entsteht eine artenspezifische Rangfolge der Informationsquellen, die sich in der Ausprägung der entsprechenden Sinnesorgane widerspiegelt. Die Intensität eines Reizes könnte ein weiteres Bewertungskriterium sein. Ein starker Geruch zeigt die Nähe des wahrgenommenen Objekts an. Wird der Geruch nach einem Abgleich mit Erfahrungen allerdings als harmlos eingestuft, bleibt er für die anstehende Entscheidung bedeutungslos. Ist er einem gefährlichen Räuber zuzuordnen, dann ist höchste Wachsamkeit geboten, selbst wenn der Feind noch nicht gesichtet ward.

Die beiden genannten Kriterien erklären aber noch nicht, wie verschiedene Reize eines Sinnesorgans oder gleichstarke Reize verschiedener Sinne gegeneinander abgewogen werden. Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir uns noch einmal anschauen, wie Gefühle entstehen. Gefühle werden durch Botenstoffe hervorgerufen, die bestimmte Bereiche im Gehirn oder Nervengeflechte im Körper anregen, deren Aktivität als Gefühl wahrgenommen wird. Die Freisetzung der Botenstoffe wird durch Informationen beziehungsweisen von Reizen, die von Sinneszellen ausgehen, ausgelöst. Welche Information beziehungsweise welche Sinneszelle welchen Botenstoff freisetzt, ist im Erbgut verankert. Diese Zuordnung, die auch eine Bewertung beinhaltet, hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet. Mit ihr entstand offensichtlich ein Ranking der Botenstoffe und Gefühle, das die Bedeutung der ihnen zugrundeliegenden Informationen für das Überleben der Art widerspiegelt. Je höher das Ranking eines Botenstoffs ist, umso stärker fließt das von ihm hervorgerufene Gefühl in die Entscheidung ein, wobei die Intensität seiner Ausschüttung verstärkend oder dämpfend wirken kann. Dieses insgesamt bewährte System hat allerdings einen Nachteil, denn auch Stoffe oder Verhaltensweisen, die dem Leben eher schaden, können großen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, wenn sie mit der Ausschüttung von Botenstoffen verbunden sind, die starke angenehme Gefühle bescheren. Zerstörerische Süchte sind mitunter die Folge.

Bei all unseren Überlegungen zu Informationen und Entscheidungen kam der Begriff „Bewusstsein“ nicht vor. Wir brauchten ihn nicht. Die Vorgänge, die mit dem Wort „bewusst“ beschrieben werden, betreffen häufig Prozesse der Informationsverarbeitung, die dem Ziel dienen, die Prioritäten des Handelns zu bestimmen. Dazu müssen die Informationen zueinander in Beziehung gesetzt und mit Erfahrungen abgeglichen werden. Diese Fähigkeit ist, wie wir sahen, in einem langen evolutionären Prozess entstanden und weiterentwickelt worden. Die Besonderheit, die der Mensch diesem Prozess hinzufügte, ist mit der Sprache verbunden, durch die er in die Lage kam, selbst Informationen und damit Gefühle zu erzeugen. Geht die Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen, zum Beispiel in Folge einer schweren Verletzung des Gehirns, verloren, dann setzt ein bewusstloser oder besinnungsloser Zustand ein. Die primären Lebensfunktionen bleiben jedoch erhalten, da sie von den Teilen des Gehirns gesteuert werden, die automatisch, das heißt nach ererbten Mustern und ohne die Notwendigkeit individueller Entscheidungen, funktionieren. Für die Abgrenzung eines bewussten von einem bewusstlosen Zustand ist der Begriff „Bewusstsein“ also sinnvoll, für die Beschreibung der informationsverarbeitenden Prozesse eher weniger.

zuletzt geändert: 16.09.2019

Bild: online-mit-tieren.com

 

Odins Raben

 

serveimage

Die Welt der nordischen Götter ist vielgestaltig. Jedes der sie verehrenden Völker brachte eigene Anschauungen und Legenden in diese Welt ein. Einige der Götter gewannen im Laufe der Zeit an Bedeutung, andere wurden beinahe vergessen. Die Vikinger, zum Beispiel, bewunderten und verehrten Odin als den Meister der Götterwelt. Dieser kriegerische Gott, der Kampf und Zwietracht über alles liebte, ließ die Kämpfer zu rasenden Ungeheuern werden, die das eigene Leben nicht achteten. Die Vikinger verehrten ihn wohl auch deshalb, weil der Kampf zu ihrem Leben gehörte. Ackerbau, Viehzucht und auch die Jagd waren mühselig und konnten sie kaum ernähren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade junge Leute auf Raubzüge sannen, um sich zu beweisen und auch, um auf diese Weise einen Beitrag zum Überleben der Sippe zu leisten. Gleichzeitig mussten die Sippen selbst vor räuberischen Nachbarn auf der Hut sein. Man brauchte zum Überleben daher nicht nur Unerschrockenheit und Kampferfahrung sondern auch Wissen über die Feinde und deren Absichten. Odin bediente sich zweier Raben, die er aussandte, um Neuigkeiten zu sammeln und ihm zuzutragen. Die Raben hießen Hugin, was soviel bedeutet wie „Gedanke“, und Munin „Erinnerung“.1)

Die Raben flogen aus und kamen mit Informationen zu ihrem Herrn zurück. Sie wussten also, wer ihr Herr war und wo sie ihn finden würden. Sie erkannten Neuigkeiten und konnten diese Informationen erinnern. Das sind erstaunliche Fähigkeiten. Offensichtlich war bereits den Vikingern aufgefallen, dass Raben ganz besondere Vögel sind. Tatsächlich nötigt auch uns Heutigen die Schlauheit der Raben Bewunderung ab. Sie besitzen eine erstaunliche Merkfähigkeit, die sie befähigt, Futterverstecke über lange Zeit zu erinnern. Ihnen ist auch klar, dass andere ihre Vorräte rauben könnten, jedenfalls achten sie darauf, dass sie beim Anlegen von Verstecken nicht von anderen Raben beobachtet werden. Wahrscheinlich haben sie aus der Erfahrung, bestohlen worden zu sein, die Schlussfolgerung gezogen, Vorsicht walten zu lassen. Diese Erkenntnis vermögen sie an den Nachwuchs weiterzugeben, der auf diesem Wege diesen und manch anderen Trick des Lebens lernt.

Man könnte natürlich vermuten, dass es sich um angeborene Verhaltensweisen handelt. Dem steht entgegen, dass es viele Beispiele gibt, die zeigen, wie sich Raben und Krähen eine konkrete Situation zu nutze machen, um an Nahrung zu gelangen. Sie locken Vögel mit fiesen Tricks von ihren Nestern weg, um die Gelege auszurauben. Sie sind zur Stelle, wenn ein Schuss fällt, der auf eine Jagdgesellschaft schließen lässt, oder wenn Wölfe heulen, denn es könnte ja ein Brosamen für sie abfallen. Raben nutzen Werkzeuge, gegebenenfalls auch den Straßenverkehr, um Nüsse oder Früchte zu knacken. Aber nicht nur die kluge Nutzung von Gegebenheiten gehört zu ihrem Repertoire, sie sind auch Meister der arglistigen Täuschung. In einem Experiment ließ man zwei Raben zusehen, wie in einem Gehege Futter versteckt wurde.2) Wurde der Zugang zu diesem Gehege geöffnet, setzte ein regelrechtes Wettrennen um die Leckerli ein. Bei einigen Versuchen konnte nur ein Rabe zusehen, wie das Futter versteckt wurde. Der andere Rabe war ahnungslos, was dem Bevorteilten nicht verborgen blieb. Wurde nun der Zugang zum Gehege geöffnet, spurtete der Rabe mit dem Wissensvorsprung nicht etwa auf das Futter los, denn das hätte mit Sicherheit die Aufmerksamkeit des Rivalen geweckt. Er nahm sich vielmehr Zeit und kam, oh welch ein Zufall, genau dann an dem Versteck vorbei, als der andere Rabe weit entfernt war. Jetzt brauchte er den gefräßigen Konkurrenten nicht zu fürchten.

Raben haben offensichtlich auch ein Bild von sich selbst und von anderen Individuen ihrer Art. Sie begrüßen Artgenossen, die sie nicht kennen, mit einer deutlich tieferen und rauheren Stimme als Raben, die ihnen vertraut sind. Ihnen bekannte „freundliche“ Raben werden mit höherer Stimme begrüsst als bekanntermaßen „unfreundliche“.3) Das heißt, sie erkennen die unterschiedlichen Individuen, bewerten sie in ihrem Verhalten und können diese Bewertung erinnern. In einem Experiment wurde Raben ein roter Punkt aufgeklebt. Dann wurde ihnen ein Spiegel vorgesetzt. Sie erkannten sich und den roten Punkt an ihrem Federkleid und versuchten, diesen wegzupicken. Sie hatten also verstanden, dass das Spiegelbild ein Abbild ihrer selbst war und der rote Punkt dort nicht hingehörte.4) Diese Beispiele zeigen, dass Raben über eine hervorragende Merk- und Lernfähigkeit verfügen, dass sie mit Artgenossen kommunizieren und dass sie in der Lage sind, Schlussfolgerungen zu ziehen oder auch sich selbst zu erkennen. Das sind anspruchsvolle geistige Leistungen, die demnach kein Alleinstellungsmerkmal höherer Säugetiere sind.

Auf der anderen Seite haben wir bereits gesehen, dass Krebse und Insekten zwar komplizierte Verhaltensmuster beherrschen und ihre Umwelt vielfältig wahrnehmen, dass die jeweiligen Wahrnehmungen aber relativ starr mit vorgeprägten Verhaltensmustern verknüpft sind. Ein Lernprozess des einzelnen Individuums findet nicht statt. Die Fliege wird auch zum hundersten Mal an die Scheibe krachen, weil der Reiz der Helligkeit sie lenkt. Sie kann auch um den Preis tötlicher Erschöpfung nicht begreifen, dass mit der Scheibe ein unüberwindliches Hindernis den Weg versperrt. Die Fliege ist also nicht in der Lage, aus den vorausgegangenen Fehlversuchen zu lernen.

Die Fähigkeit, aus Erfahrung klug zu werden, das heißt zu lernen, setzt die Fähigkeit des Erinnerns voraus. Diese Fähigkeit ist vor allem für Wirbeltiere charakteristisch, die vor 540 Millionen Jahren ihren Weg begannen. Zu den ersten Wirbeltieren zählen die Fische. Fische werden gemeinhin nicht als sonderlich intelligent angesehen, und doch haben Beobachtungen an heutigen Arten beachtliche geistige Leistungen gezeigt. Man konnte zum Beispiel Goldfische dressieren, dass sie einen Ball mit Stirn und Maul in ein Tor bugsieren. Dressur setzt Erinnerung voraus. Drückerfische nutzen spezielle Steine um Seeigel, ihre Hauptnahrung, zu knacken. Dieses Wissen geben sie sowohl an andere wie auch an ihren Nachwuchs weiter.5) Bei Putzerfischen hat man entdeckt, dass sie sich je nach Situation unterschiedlich verhalten. Ihre Erfahrung lehrt sie, eine Situation zu bewerten und ihr Verhalten entsprechend anzupassen.

Aber nicht nur Wirbeltiere sind zu erstaunlichen geistigen Leistungen fähig. Als die intelligentesten wirbellosen Tiere gelten Kopffüßer, insbesondere Kraken. Sie sind ebenfalls lernfähig und haben ein beachtliches räumliches Gedächtnis. Kraken sind Meister der Tarnung und des Sichversteckens. Sie erfassen besondere Gegebenheiten und nutzen diese, um an Futter zu gelangen. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass sie eine Beobachtung mit einem erwarteten Ergebnis verbinden können. So sind Kraken in der Lage, Gegenstände aus einem verschlossenen Glas herauszuholen, indem sie den Deckel abschrauben.6) Tintenfische haben gelernt, die Hummerfallen der Fischer auszuräumen und Kraken entern schon mal ein Fischerboot, um sich vor der Nase der Fischer an deren Fang gütlich zu tun. Damit der Plan gelingt, tarnen sie sich gekonnt.

Kraken planen und täuschen – tun sie das bewusst? Bei der Frage nach dem Bewusstsein von Tieren geht man, unausgesprochen, vom Menschen aus. Der Mensch gehört zu den Wirbeltieren, deren Geschichte unter anderem durch die Entwicklung des Gedächtnisses geprägt ist. Demnach wäre es nachvollziehbar, die Entstehung des Bewusstseins mit der Geschichte der Wirbeltiere zu verbinden. Doch wie sind dann die geistigen Leistungen der Kraken zu bewerten? Wirbeltieren und Weichtieren ist gemeinsam, dass sie Nervenzellen besitzen, die sich zu neuronalen Netzen verknüpfen. Ist etwa bereits die Entstehung von neuronalen Netzen die Geburtsstunde des Bewusstseins? Doch wie ordnen wir dann Quallen und Insekten ein, die ebenfalls über neuronale Strukturen gesteuert werden, die aber nicht über ein Gedächtnis verfügen? Wir kommen mit dieser Frage nur weiter, wenn wir klären, was unter „Bewusstsein“ zu verstehen ist.

zuletzt geändert: 03.09.2019

1) Wikipedia, Stichwort „Hugin und Munin“

2) GEO kompakt Nr. 28, Seite 98, Sebastian Witte – Vögel was sie wohl denken? 2011

3) Wikipedia, Stichwort „Kolkrabe“

4) Wikipedia, Stichwort „Raben und Krähen“

5) www.welt.de, Elke Bodderas, Fische sind intelligent – nicht nur im Schwarm, Interview mit Prof. Jens Krause, 10.01.2011

6) Wikipedia, Stichworte „Intelligenz von Kopffüßern“ sowie „Kopffüßer“

Bild: Wikipedia by Sigurdur Atlason, gefunden unter www.der-silberne-zweig.de

Ein etwas anderes Tier

Man hat immer wieder versucht, das Besondere herauszuarbeiten, das die Menschen von den Tieren und insbesondere von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Menschenaffen, unterscheidet. Die jeweils gefundenen Einzigartigkeiten hatten oft nicht lange Bestand. Je mehr man über die Tiere lernte, desto mehr wurde klar, dass die Fähigkeiten der Menschen bereits im Tierreich vorhanden beziehungsweise in der einen oder anderen Form angelegt sind.

Ein Merkmal beinahe aller Tiere ist die Fähigkeit zur Bewegung im Raum. Für Bewegung braucht man Energie, die permanent verfügbar sein muss. Das gilt umso mehr als jederzeit eine Gefahr auftauchen kann, auf die umgehend reagiert werden muss. Deshalb bilden und speichern die Tiere Stoffe, bei deren Verbrennung sofort die benötigte Energie freigesetzt wird. Die in diesen Stoffen gebundene Energie muss aber irgendwo herkommen, das heißt, sie muss von außen aufgenommen worden sein. Als Ressource kommt vor allem das Sonnenlicht in Frage, da es fast überall verfügbar ist. Nur leider sind Tiere nicht in der Lage, das Sonnenlicht für die Bildung körpereigener Energieträger zu nutzen. Das können nur Pflanzen, weshalb viele Tiere sie zum Fressen gerne haben. Im Zuge der Verdauung wandeln sie die pflanzlichen in körpereigene Stoffe mit einer höheren Energiedichte um. Manche sparen sich diesen mühsamen Weg und fressen gleich das energiedichte Fleisch anderer Tiere. So oder so, am Ende der Nahrungskette stehen, zumindest außerhalb der Meere, immer Tiere, die sich von Pflanzen ernähren. Die Pflanzen sind wiederum auf Mikroorganismen angewiesen, die ihnen helfen, die für den eigenen Aufbau erforderlichen Stoffe aus der Umwelt zu gewinnen.

Nährstoffe bestehen, wie alles andere auch, aus Atomen und Molekülen. Man schätzt, dass Menschen aus zirka 10 hoch 27 (also 1 und 27 Nullen) Atomen bestehen. Diese Atome sind bereits in der Anfangsphase des Universums entstanden, das heißt, sie sind mehr als 4 Milliarden Jahre alt. Jeder Mensch besteht also aus Teilen, die so alt sind wie das Universum selbst. Kein Wunder, dass man sich manchmal uralt fühlt. Von allen Atomen gehen mehr oder weniger starke Wirkungen aus, die unter anderem dazu führen, dass sie sich zu Molekülen verbinden. Auch von den Molekülen gehen Wirkungen aus, die sie zu Bestandteilen größerer Strukturen werden lassen. Einige von ihnen verirren sich auch in den einen oder anderen Menschen. Hinzu kommt, dass so ein Mensch mit seiner Umwelt interagiert, zum Beispiel in dem er Luft einatmet, isst und trinkt und dabei Unmengen von Stoffen zu sich nimmt, verarbeitet und irgendwann auch wieder ausscheidet. Ein Organismus muss also in der Lage sein, eine Vielzahl von Stoffen samt ihrer Wirkungen auszuhalten. Diese Fähigkeit wurde in einem Milliarden Jahre währenden Kampf um die Fortexistenz des Lebens erworben und immer weiter perfektioniert. Trotzdem ist sie nicht grenzenlos. Einige Atome und Moleküle können dem Organismus durchaus gefährlich werden, zumal wenn sie in geballter Ladung auftreten. Was eine geballte Ladung ist, kann dabei unterschiedlich bemessen sein. Von manchen Stoffen, die man wegen ihrer Wirkung auf den Organismus als Gifte bezeichnet, reichen kleinste Mengen, um diesen außer Gefecht zu setzen. Andere werden erst bei einer bestimmten Konzentration im Organismus bedrohlich. Selbst lebenswichtige Stoffe, wie das Salz, können in übergroßen Mengen verabreicht, irreversible Schäden verursachen.

Organismen sind Zellverbünde, in denen sich die einzelnen Zellen auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert haben, um so zur Fortexistenz des Ganzen beizutragen. Gleichzeitig sind diese Zellen nur noch im Verbund überlebensfähig. Der Zellverbund Mensch besteht aus schätzungsweise 10 hoch 14 Zellen, die sich einander angepasst und auf einzelne Aufgaben spezialisiert haben.1) Der Organismus sichert ihr Überleben, weshalb sie das ihrige beitragen, ihn zu erhalten. Trotzdem hat jede Zelle ihr eigenes von Werden und Vergehen bestimmtes Dasein. Bei einem erwachsenen Menschen sterben in jeder Sekunde rund 50 Millionen Zellen und neue werden in ähnlicher Größenordnung gebildet.1) Das Leben eines Menschen ist also durch das ununterbrochene Massensterben seiner Zellen genauso geprägt, wie durch deren permanente Neuerschaffung. Dahinter steht eine grandiose logistische Leistung, denn die Aufbaustoffe für die Zellen müssen bereitgestellt und die Abfallstoffe beseitigt werden. Das Ganze funktioniert, weil jede einzelne Zelle ihren definierten Platz im Organismus hat und die mit ihm verbundenen Aufgaben mehr oder weniger selbsttätig wahrnimmt.

Die Billionen von Zellen, aus denen ein Mensch besteht, sind natürlich nicht alle auf eine jeweils andere Aufgabe spezialisiert. Die Aufgaben, die die Zellen im Organismus wahrzunehmen haben, lassen sich eher mit einigen Hundert angeben. In der Regel ist es auch nicht eine einzelne Zelle, die eine spezielle Aufgabe übernimmt. Sie bilden vielmehr ihrerseits Verbünde, die als Gesamtheit bestimmte Funktionen im Organismus erfüllen. Diese Funktionseinheiten sind wiederum nicht nur aus einem Zelltyp aufgebaut, auch hier bilden in aller Regel Zellen mit unterschiedlichen Eigenschaften ein Ganzes. Diese Einheiten können von einem zentralen Platz im Organismus dem Ganzen dienen, wie die inneren Organe, sie können ihn aber auch gänzlich bedecken, wie die Haut, oder ihm inneren Halt und Beweglichkeit verleihen, wie das Skelett mit Muskeln, Sehnen und Bändern. Darüber hinaus gibt es Systeme, die den ganzen Korpus durchziehen und die Zellen mit Wasser, Sauerstoff, Brennstoff und Mineralien versorgen, oder eben den Abfall beseitigen. Alle Organe, Apparate und Systeme sind relativ eigenständige Einheiten. Sie sind aber auch Funktionseinheiten des Ganzen und müssen daher den unterschiedlichen Anforderungen, die der Organismus in den verschiedenen Lebenssituationen an ihr Wirken stellt, gerecht werden. Für die Koordinierung ihrer Tätigkeit hat sich eine spezielle Einheit, das Gehirn, herausgebildet, das über Sinneszellen und Nervenbahnen Informationen sammelt und die Aktivität der Funktionseinheiten steuert.

Neben der Unmenge von Zellen, aus denen ein Mensch besteht, bevölkern ihn auch noch Heerscharen von Mikroorganismen. Man schätzt, dass eine Billiarde dieser Winzlinge in und auf einem erwachsenen Menschen leben. Das sind weit mehr als er eigene Zellen hat. Im Unterschied zu den Zellen, die unlöslich zum Verbund Mensch gehören und auch von ihm versorgt werden, sind die Mikroorganismen eher als dessen Partner zu verstehen. Sie sind zwar auf der einen Seite von dem Organismus, dem sie zugehören, abhängig, auf der anderen Seite versorgen sie sich in dieser spezifischen Umwelt eigenständig. Zu ihrem Dasein gehört, dass sie Nachkommen hervorbringen und selbst irgendwann sterben. Natürlich bewegen sie sich auch in ihrer Umwelt, also im und auf dem Korpus Mensch, und sie nehmen diesen ihren Erfordernissen entsprechend wahr. Viele dieser Mikroorganismen mögen den Organismus Mensch in seiner Gesamtheit kaum beeinflussen. Einige von ihnen sind jedoch überlebenswichtig, zum Beispiel weil sie helfen, die aufgenommene Nahrung zu zersetzen und der Energiegewinnung zuzuführen. Allerdings gibt es auch die anderen, die den Organismus angreifen und ihn schwächen, ihm vielleicht sogar den Garaus machen.

Mikroorganismen sind aus der Entwicklungsgeschichte des Lebens nicht wegzudenken. Sie steuerten in ihrer rund 3,5 Milliarden Jahre währenden Existenz viele Innovationen bei, die zur Voraussetzung für die weitere Entwicklung wurden. Sie brachten zum Beispiel Botenstoffe hervor, um mit ihrer Hilfe Veränderungen in der Zelle planvoll zu steuern, sie erfanden die Atmung, das heißt, die Aufnahme von Sauerstoff zur Energiegewinnung durch Verbrennung und sie lernten, sich zu bewegen und selbsttätig nach Nahrung zu suchen. Für diese Suche brauchten sie Sensoren, die sie mit Informationen aus der Umwelt versorgen. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Mikroorganismen nicht nur die ersten Lebewesen auf Erden waren, sondern dass sie auch die Basis für die weitere Entwicklung des Lebens schufen.

Die Entwicklung des Lebens blieb aber nicht bei den Einzellern stehen. Zellverbünde, das heißt, Organismen in Form von Pflanzen und Tieren, entstanden, die seit nunmehr 1,8 Milliarden Jahren das Bild unseres Planeten prägen. Es waren zum Beispiel urzeitliche Würmer, die als erste Nervenzellen zur schnellen und zielsicheren Signalübertragung ausbildeten. Mit Hilfe dieser Zellen konnten neuronale Netze zur Steuerung von Bewegungen angelegt werden, die in einem speziellen Teil des Körpers, dem Kopf, konzentriert wurden. Fische, die seit rund 450 Millionen Jahren durch die Meere schwimmen, schützten das auf diese Weise entstandene Gehirn mit einem Schädel, genauso wie sie ein ausgefeiltes Stützsystem für den Körper hervorbrachten. Sie wurden zu Urahnen der Wirbeltiere, zu denen auch die Menschen zählen. Mit dem Landgang der Tiere vor rund 400 Millionen Jahren kam die Lungenatmung ins Spiel. Außerdem entwickelten sich die Extremitäten weiter, so dass Bewegungen in unterschiedlichem Umfeld möglich wurden. Die Landgänger bildeten darüber hinaus komplexe Sinnesorgane aus, mit denen sie eine große Vielfalt an Informationen aus ihrer Umwelt gewannen. Diese Informationen mussten eingeordnet und bewertet werden, was nur mit Hilfe von Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen gemacht worden waren, zeitnah gelingen konnte. Außerdem stellte sich heraus, dass es vorteilhaft ist, die Brut im Mutterleib reifen zu lassen und lebend zu gebären. Durch diese Neuerung wurden die Überlebenschancen des Nachwuchses deutlich besser, so dass dessen Zahl zurückgehen konnte. Allerdings musste nun die nachgeburtliche Fürsorge intensiviert und den Neugeborenen eine leicht adaptierbare, nährstoffreiche Nahrung, eine Muttermilch, gegeben werden.

Zu den Säugetieren gehört auch die Ordnung der Primaten, deren Anfänge weit in die Frühzeit der Evolution zurückreichen. Die Geschichte der Primaten weist vor etwa sieben Millionen Jahren eine Zäsur auf. Durch klimatische Veränderungen waren die großen Wälder Afrikas auf dem Rückzug und Savannen bedeckten weite Flächen des Kontinents. In Anpassung an die unterschiedlichen Lebensräume teilte sich eine bereits hochentwickelte Spezies von Primaten in zwei Gruppen. Die einen lebten weiterhin in den verbliebenen Wäldern, die anderen passten sich dem Leben in den Savannen an. Sie perfektionierten das Laufen auf zwei Beinen, da sie so über das hohe Gras hinausschauen und Raubtiere beizeiten erkennen konnten. Außerdem hatten die aufrecht Gehenden die Hände frei, die sie nun nutzten, um Pflanzen, Wurzeln und Früchte zu sammeln oder nach Muscheln, Algen und Schnecken zu suchen. Aber auch Insekten und andere Kleintiere sowie Eier wurden nicht verschmäht. Der mit dem aufrechten Gang verbundene gute Überblick mag sie auch in die Lage versetzt haben, verletzte oder verendete Tiere von weitem zu erspähen. Alllerdings waren sie nicht die einzigen, die nach einer derartiger Beute Ausschau hielten. Einige der Konkurrenten konnten aus luftiger Höhe viel früher die begehrte Mahlzeit orten. Andere waren bessere Läufer und eher am Ziel, so dass die diesbezüglichen Anstrengungen unserer frühen Vorfahren wohl nur selten von Erfolg gekrönt wurden. Die Konkurrenten ließen ihnen nur geringe Fleischreste zurück, die sie immerhin mit scharfkantigen Steinen von den Knochen schaben konnten. Außerdem bargen die Knochen einen Schatz, das fett- und mineralstoffreiche Mark, das man allerdings nur erreichen konnte, wenn man die Knochen aufbrach. Dazu konnten spitze Steine oder solche mit scharfen Kanten benutzt werden. Da diese nicht überall zu finden waren, musste man die vorgefundenen Steine irgendwie bearbeiteten, damit sie zu brauchbaren Werkzeugen würden.

Vor zirka 2,5 Millionen Jahren traten erneut klimatische Veränderungen ein, die mit  wiederkehrenden Trockenperioden verbunden waren. Die Pflanzen bildeten nun härtere Schalen aus, um sich vor Austrocknung zu schützen. Um diese Pflanzen trotzdem als Nahrung nutzen zu können, entwickelten einige Gruppen der in den Savannen lebenden Primaten einen gewaltigen Kauapparat mit starken Kiefern und breiten Zähnen. Als sich die klimatischen Verhältnisse wieder normalisierten, wurde dieser überdimensionierte Kauapparat überflüssig, ja hinderlich. Er verschwand und mit ihm die durch ihn gekennzeichneten Arten. Andere Gruppen unserer frühen Vorfahren hatten Werkzeuge benutzt, um die harten Schalen der Pflanzen zu zerkleinern. Nach der neuerlichen Veränderung der natürlichen Bedingungen konnten sie ihre Werkzeuge modifizieren, ohne dass sie als Art gefährdet waren. Die mit den Werkzeugen gewonnene Flexibilität erwies sich als ein entscheidender Vorteil bei der Anpassung an sich verändernde Existenzbedingungen.

Die Werkzeuge wie auch die Jagdgeräte wurden im Laufe der Zeit immer weiter verbessert, so dass auch mehr tierische Nahrung beschafft werden konnte. Diese Nahrung mit ihrem Reichtum an Energie und Mineralien trug dazu bei, dass die Individuen, wie auch ihre Gehirne, größer wurden. Ihr intellektuelles Potenzial nahm zu, was sich unter anderem in einer weiteren Verbesserung der Werkzeuge und Jagdgeräte niederschlug. Das Wissen um deren Herstellung und Verwendung wurde zu einem überlebenswichtigen Schatz, den es zu bewahren, das heißt weiterzugeben, galt. Die Weitergabe von Erfahrungen war mit höheren Anforderungen an die Kommunikation verbunden, deren Entwicklung wiederum Impulse zur Ausprägung der intellektuellen Fähigkeiten setzte. Schritt für Schritt bildete sich eine Spezies heraus, die die Werkzeuge den Anforderungen entsprechend modifizierte und gezielt einsetzte, die das Leben und Überleben der Gruppe gemeinschaftlich organisierte und die die Erfahrungen, die in der Gruppe gesammelt wurden, über die Generationen hinaus bewahrte. Damit hoben sie sich von ihren äffischen Vorfahren ab. Die aus dieser Entwicklung hervorgegangenen Arten werden deshalb einer neuen Gattung, der Gattung Mensch, zugerechnet.

zuletzt geändert am 30.07.2019

Quellen:

1) JoachimSchüring, Wie viele Zellen hat der Mensch, www.spektrum.de, 2003

2) GEOkompakt Nr. 41, Der Neandertaler, 2014

3) Josef H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung, dtv Wissen 1993

Bild: pinterest.com

Bewegung ist alles

harscher.de

Will man jemanden bestehlen, muss man sich bewegen. Mit diesem Satz könnte man die Lebensphilosophie der Tiere zusammenfassen. Objekt ihrer Begierde sind Stoffe, aus denen Energie gewonnen werden kann – Zucker, Fette, Eiweiße. Diese Stoffe hat zwar jemand anderes produziert und deren Diebstahl könnte dem Bestohlenen die Existenz kosten, aber so ist nun mal das Leben – des einen Freud des andern Leid. Die potenziellen Opfer werden allerdings nicht von sich aus angelaufen kommen, um gefressen zu werden. Im Gegenteil, man muss die mögliche Beute erst einmal ausfindig machen, dann muss man sie erhaschen und irgendwie der eigenen Verdauung zuführen. Ein solcher Beutezug bedarf einer zielgerichten Aktion, für die vielfältige Informationen erforderlich sind, die gesammelt, verarbeitet und im Handeln berücksichtigt werden müssen. So kommt eines zum anderen, und für alles braucht man Energie.

Werden von unserem Räuber Pflanzen als Beute bevorzugt, hat das den Vorteil, dass selbige nicht davonlaufen. Der Nachteil des Grünzeugs besteht darin, dass dessen Energiedichte zu wünschen übrig lässt. Das heißt, im Vergleich zum Körpergewicht müssen relativ große Mengen verzehrt werden, um den Energiehunger zu stillen. Fleisch hat eine höhere Energiedichte. Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Nur diese Träume sind flüchtig, sie rennen, schwimmen oder fliegen einfach davon. Die Jäger müssen immer neue Strategien finden, um Beute zu erhaschen. Die Gejagten tun es ihnen nach, denn sie wollen entkommen und ihr Leben retten. Auf diese Weise wurde das Jagen und Gejagtwerden zum Motor für die Entwicklung immer neuer Fähigkeiten.

Die Strategie, andere Lebewesen als Energiequelle zu nutzen, ist vermutlich so alt wie das Leben selbst. Bereits im Zeitalter der Mikroorganismen entwickelten sich nicht nur Bakterien sondern auch Phagen, das heißt Viren, die Bakterien „fressen“. Allerdings sind sie nicht in der Lage, die Bakterien zu verstoffwechseln, um auf diese Weise Energie für ihr alltägliches Leben zu gewinnen. Ihre Strategie besteht darin, die eigenen Lebensprozesse zu minnimieren, um ohne Energienachschub zu überdauern. Die Inhaltsstoffe der Bakterien, in die sie eindringen, dienen praktisch ausschließlich der Erzeugung von Nachkommen. Um den Aufwand für die Umwandlung der erbeuteten Stoffe möglichst gering zu halten, spezialisieren sich die Phagen auf eine oder wenige Bakterienarten. Nur jagen können sie diese nicht, denn woher sollten sie die Energie dafür nehmen. Meister Zufall muss ihnen helfen und eine Wirtsbakterie mundgerecht servieren.

Ein neues Zeitalter brach an, als die Cyanobakterien die Fähigkeit entwickelten, mit Hilfe des Sonnenlichts Energiereservestoffe in Form von Zuckern aufzubauen und zu speichern. Diese Reservestoffe brachten ihnen Unabhängigkeit, da sie nun jederzeit über Energie verfügten. Die Zucker hatten jedoch einen gravierenden Nachteil, sie konnten auch von anderen Lebewesen verwertet werden. Dazu mussten diese nur lernen, wie die Zucker zur Energiegewinnung aufzuspalten sind. Eine Aufspaltung ist durch Verbrennung möglich. Der dafür erforderliche Sauerstoff war in zunehmenden Maße vorhanden, wurde er doch bei der Photosynthese von den Zuckerproduzenten produziert. Nun brauchte man noch einen Weg, um den Sauerstoff in den Organismus aufzunehmen, was tatsächlich einigen Bakterien gelang. Von da an wurden die Zucker und mit ihnen die Zuckerproduzenten zur heiß begehrten Beute.

Die als Beute auserkorenen Cyanobakterien, nicht dumm, taten sich zusammen, um den anderen das Beutemachen zu erschweren. Größere Räuber hatten am ehesten eine Chance, in diese Trutzbünde einzudringen. Voraussetzung war allerdings, dass sie selbst über die Fähigkeit verfügten, die erbeuteten Zucker in Energie zu verwandeln. Es zeigte sich, dass die einfachste Lösung dieses Problems darin bestand, Bakterien, die diese Fähigkeit entwickelt hatten, in den eigenen Zellaufbau zu integrieren. Derart aufgerüstete Räuber wurden zu einer großen Gefahr für die fleißigen Cyanos. Es war höchste Zeit, dass sie sich ebenfalls etwas Neues einfallen ließen. In ihren Kolonien lebten größere Bakterien, die die Fähigkeit zur Photosynthese erlangt hatten. Diese als Grünalgen bezeichneten Bakterien waren schon wegen ihrer schieren Größe schwerer angreifbar. Außerdem trennten sie sich im Prozess der Vermehrung nicht mehr völlig voneinander, so dass mehrzellige Gebilde entstanden, die den Räubern gut Paroli boten. Mehrzellige Organismen, die Zucker produzieren beziehungsweise die an dessen Produktion beteiligt sind, nennen wir Pflanzen. Nun waren wieder die Räuber am Zug. Sie bildeten ebenfalls mehrzellige Einheiten, die zu ganzheitlichen Organismen, Tiere genannt, heranwuchsen.

Die Entwicklung der Tiere vollzog sich anfänglich in zwei Richtungen. Die eine Gruppe war durch eine geringe Spezialisierung der beteiligten Zellen gekennzeichnet. Diese schwammartigen Gebilde bevölkerten vor 750 Millionen Jahren in großer Zahl die Ozeane. Sie bestanden aus Tausenden von Zellen, wuchsen auf Steinen und ließen durch unzählige Poren Wasser fließen, um Nahrhaftes herauszufiltern. Ihre Fähigkeiten gingen dabei kaum über die der Mikroorganismen hinaus. Trotzdem werden sie, da es mehrzellige Wesen waren, als erste Tierformen angesehen. Für die andere Gruppe wurde die fortschreitenden Spezialisierung der Zellen, die mit der Herausbildung von immer neuen Fähigkeiten einherging, charakteristisch. Unter diesen Fähigkeiten erlangte die Bewegung aus eigener Kraft besondere Bedeutung, da sie zur Grundlage für eine aktive Nahrungssuche wurde. Eine zielgerichtete Bewegung verlangt jedoch Informationen über die Welt, in der man sich bewegen will. Je flexibler die Bewegungen werden sollten, desto mehr Informationen wurden benötigt. Die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen kann daher als Gradmesser des evolutionären Fortschritts angesehen werden.

Unter den noch heute lebenden Arten gelten Quallen als die ältesten komplexen Tiere. Sie schwimmen schon seit 750 Millionen Jahren durch die Meere, wo sie mit Hilfe ihrer Tentakeln Kleinlebewesen fangen. Für die Jagd muss die Qualle die Aktivitäten verschiedener Zellen koordinieren. Einige sind für die Bewegung des Körpers, andere für den Einsatz der Tentakeln zuständig, wieder andere sichern die Orientierung in der Umwelt oder die Erzeugung des Gifts, das die Opfer lähmen soll. Wird nun von einer Sinneszelle das Auftauchen einer möglichen Beute signalisiert, dann müssen alle an der bevorstehenden Jagd beteiligten Zellen informiert, das heißt, in Bereitschaft versetzt werden. Diese Aufgabe übernehmen Nervenzellen, die in Form von neuronalen Netzen den ganzen Körper durchziehen. Ist die Beute in Reichweite, kann die Jagd beginnen, das heißt, die in Bereitschaft befindlichen Zellen werden in einer festgeschriebenen Abfolge zur Aktion veranlasst.

Ein Information – eine Reaktion, dieses einfache Schema war, wie man bei den Quallen sieht, überaus erfolgreich. Es hat den Nachteil, dass kein Raum für die Anpassung des Verhaltens an unterschiedliche Bedingungen bleibt. Für eine solche Anpassung braucht man Alternativen, das heißt auf eine Information sind mehrere Reaktionen möglich. Hat man Alternativen, muss man sich jedoch für eine von ihnen entscheiden. Dafür sind Informationen erforderlich, die eine Bewertung der vorgefundenen Situation gestatten. Es könnte allerdings sein, dass die gewonnenen Informationen nicht eindeutig, vielleicht sogar widersprüchlich, sind. Dann müssen sie erst einmal miteinander verglichen und bewertet werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Wenn sich die neuronalen Netze, wie bei der Qualle, über den gesamten Körper verteilen, sind für einen solchen Abgleich relativ lange Wege zurückzulegen, wodurch sich der Prozess verlangsamt und gleichzeit fehleranfällig wird. Vor rund 600 Milionen Jahren fanden urzeitliche Würmer eine Lösung des Problems. Sie nutzten nur einen Teil ihrer Nervenzellen für die Verteilung der Signale im Körper, während ein anderer Teil für die Verarbeitung der eingehenden Informationen zuständig wurde. Die von diesen gebildeten neuronalen Netze waren in einer kleinen Zentraleinheit, Gehirn genannt, konzentriert.

Weitere 60 Milionen Jahre später entstanden innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne viele neuartige Lebewesen, von denen einige bereits erstaunlich leistungsfähige Gehirne besaßen. Sie wiesen eine beachtliche Zahl von Nervenzellen auf, die in vielfältiger Weise miteinander verknüpft waren. Die Gehirne waren zu Schaltzentralen geworden, die eine ganze Palette neuronaler Netze verwalteten. Mit ihnen erlangten einige der frühen Tierarten eine beachtliche Flexibilität bei der Anpassung ihrer Bewegungen an unterschiedliche Bedingungen. Jede Bewegung ist allerdings in ein grundlegendes Verhaltensmuster, wie „Verfolgen“, „Einfangen“, „Fliehen“ oder ähnliches, eingebettet. Die Variationsbreite dieser Verhaltensmuster war noch sehr gering. Darüber hinaus waren sie direkt mit bestimmten Reizen von Sinneszellen verknüpft, so dass diesen Tieren nur wenig Spielraum für die Anpassung des Verhaltens an sich verändernde Gegebenheiten blieb.

In dieser Zeit entstand jedoch ein weiteres, eher unscheinbares Wesen, das den heutigen Neunaugen ähnelte. Es verfügte über ein aus Knorpeln bestehendes Stützsystem, eine zentrale Nervenbahn durch die Länge des Körpers und eine feste, das Gehirn schützende Schale. Dieses Wesen sollte zum Vorläufer der Fische und damit der Wirbeltiere werden, zu denen auch der Mensch gezählt wird. Ein Merkmal der Fische ist, dass sie sich alle räumlichen Dimensionen für eine zielgerichtete Bewegung erschließen können. Sie nutzen die Wirkungen der Gravitation, um oben und unten zu unterscheiden. Außerdem bildeten sie ein Vorn und ein Hinten, einen Kopf und einen Schwanz, sowie zwei beinahe gleiche Körperseiten aus, so dass jede Richtung für eine Bewegung eindeutig bestimmbar ist. Für die Ausschöpfung der entstandenen Möglichkeiten war jedoch eine Vielzahl von Informationen erforderlich, die nicht nur gewonnen sondern auch verarbeitet werden mussten. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, bildete ihr Gehirn drei spezialisierte Bereiche aus. Der Hirnstamm blieb für Herzschlag, Atmung und andere Vitalfunktionen zuständig. Er hat sich im Laufe der Evolution nur wenig verändert. Die beiden anderen Bereiche, das Kleinhirn, das die Bewegungen koordiniert, und das Großhirn, das die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet und Entscheidungen herbeiführt, machten dagegen in der Geschichte der Arten eine erstaunliche Entwicklung durch.

Doch der Reihe nach. In der nächsten Etappe eroberten sowohl Pflanzen als auch Tiere das entstandene Festland. Die Eroberer für die Tiere waren urtümliche Lurche, die sowohl im Wasser als auch an Land existieren konnten. Aus ihnen gingen die Reptilien hervor, die vor rund 300 Milionen Jahren ihren Siegeszug begannen. Im Laufe ihrer langen Geschichte waren die Reptilien immer wieder mit neuen Anforderungen konfrontiert, nicht zuletzt, weil ihre Welt vielgestaltiger wurde. Neuartige Pflanzen und Tiere, darunter gefährliche Räuber, entwickelten sich. Um in dieser Welt bestehen zu können, brauchten sie nicht nur mehr, sondern vor allem auch bessere Informationen, für deren Gewinnung komplexe Sinne entstanden. Für Saurier ist darüber hinaus charakteristisch, dass viele Arten in Gruppen zusammenlebten, in denen sich eine gewisse Rangordnung herausbildete. Das stärkste oder erfahrenste Tier führte die Gruppe an und setzte die überkommenen Regeln des Zusammenlebens durch. Wurde eine gemeinsame  Aktion erforderlich, zum Beispiel um Gefahren abzuwenden, dann musste das Leittier in der Lage sein, das Handeln der Gruppe zu koordinieren. In weit höherem Maße galt das für Arten, die gemeinsam jagden, da die Jagd ein schnelles und abgestimmtes Handeln aller Beteiligten erfordert. Für eine Abstimmung ist Kommunikation erforderlich, die sich vor allem über Botenstoffe, durch Laute oder mittels körperlicher Signale vollzog.

Es hatte schon vorher Tiere gegeben, die in Gruppen lebten, um auf diese Weise ihre Überlebenschancen zu verbessern. Fische zogen in Schwärmen durch die Meere, da sie auf diese Weise einen gewissen Schutz vor Angreifern gewannen. Im Schwarm gelten einfache Regeln – bleibt zusammen, stoßt nicht aneinander und bewegt euch wie die anderen. Für ein solches Miteinander ist nur wenig Kommunikation erforderlich. Bei den später entstandenen staatenbildenden Insekten kann man einen deutlich regeren Austausch beobachten, nicht zuletzt, weil diese Staaten durch eine innere Arbeitsteilung geprägt sind. Die Kommunikation erfolgt wiederum mit Hilfe von Botenstoffen und Tönen oder mittels Verhaltensweisen, denen eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist. Auf dieser Basis agiert solch ein Staat wie ein ganzheitlicher Organismus, mit dem Unterschied, dass er keine zentrale Steuerung kennt. Die Gruppen, in denen die Reptilien lebten, agierten dagegen unter der Führung eines Leittiers, das in der Lage war, Informationen aus der Umwelt zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen. In den Gemeinschaften der Reptilien gewann auch die Fürsorge für die Nachkommen an Bedeutung. Während anfänglich die Gelege meist sich selbst überlassen worden waren, übernahmen im Laufe der Entwicklung immer mehr Arten Verantwortung für den Schutz und die Versorgung der Nachkommen, auch, weil die dadurch mögliche Weitergabe von Erfahrungen überlebenswichtig geworden war.

Vor rund 65 Millionen Jahren ging die große Zeit der Saurier zu Ende. Vermutlich wurde die Erde von einer Katastrophe heimgesucht, die die Lebensbedingungen derart gravierend veränderte, dass ihnen keine Chance zur Anpassung blieb. Einige ihrer Verwandten, die Vögel, haben die von den Saurier hervorgebrachten Fähigkeiten bis in unsere Tage hinein bewahrt und weiterentwickelt. Vögel zeichnen sich durch ein komplexes soziales Verhalten, durch intensive Pflege der Nachkommen und hohe Intelligenz aus. Die eigentlichen Gewinner des Exodus der Dinos waren jedoch andere Verwandte, die Säugetiere. Sie krochen aus ihren Löchern und vermehrten sich fortan rasant. Immer neue Arten entstanden, die auch immer neue Lebensräume eroberten. Fast gleichzeitig traten die Blütenpflanzen ihren Siegeszug an. Man könnte sagen, die Welt der Lebewesen erfand sich neu.

Säugetiere zeichnen sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus. Auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung ist vor allem die sich vergrößernde Schicht von Neuronen zu nennen, die ihr Großhirn umhüllt. Die entstandene Großhirnrinde ist zwar sehr dünn, aber ihre Nervenzellen sind raffiniert miteinander verknüpft, so dass eingehende Informationen vielfältig kombiniert werden können. Mit dem daraus erwachsenden Potenzial wurde es unter anderem möglich, ein größer und komplizierter werdendes Geflecht sozialer Beziehungen zu beherrschen. Gemessen an vorangegangenen Perioden verlief die damit verbundene Entwicklung atemberaubend schnell. Bereits vor 40 Millionen Jahren lebten einige Säugetierarten in hochkomplexen Gemeinschaften. Die in diesen Verbänden erforderliche Kommunikation wurde wiederum mit Hilfe von Botenstoffen, Lauten, Gesten, Mimik und andere Körperzeichen gesichert. Durch eine verbesserte Gedächtnisleistung war es außerdem möglich geworden, die Mitglieder der Gruppe nach äußeren Merkmalen zu unterscheiden und ihnen Stärken und Schwächen zuzuordnen. Ein ganzes Geflecht sozialer Beziehungen entstand, das die Weiterentwicklung der Kommunikation erforderlich machte.

zuletzt geändert: 26.09.2019

vgl. GEO kompakt Nr. 33, Wie Tiere denken

Bild: harscher.de

Groß, größer, am größten

Urwald

Klein war gestern. Von nun an hatten die Großen das Sagen. Je größer, desto besser, schien die Losung zu sein. Wie hatte doch alles so beschaulich begonnen. Viele kleine unsichtbare Wesen hatten die Welt, respektive die Meere bevölkert und keinem etwas zuleide getan. Naja, ganz so friedfertig waren die Kleinen nun auch wieder nicht. Sie haben sich schon mal gegenseitig aufgefressen und mit ihrem Stoffwechsel die Umwelt dramatisch verändert. Letzten Endes war es ihre Gier nach Energie, die der alten Welt, in der nur anaerobe Mikroorganismen existierten, ein Ende setzte.

Die Cyanobakterien waren schuld. Sie kamen auf den Dreh, die so reichlich vorhandene Sonnenenergie für den eigenen Bedarf zu nutzen. Zu diesem Zweck erfanden sie die Photosynthese, mit der sie aus Kohlendioxid und Wasser unter Zuhilfenahme von Sonnenlicht Zuckermoleküle produzierten. Diese Zucker konnten in der Zelle gespeichert und bei Bedarf mittels Aufspaltung für den eigenen Energiebedarf verwendet werden. Kohlendioxid war zu jener Zeit reichlich im Wasser gelöst, es war ja auch wesentlicher Bestandteil der Atmosphäre. Um an das Sonnenlicht zu gelangen, mussten die Cyanobakterien allerdings aus der schützende Tiefe der Gewässer auftauchen und es sich in der Nähe der Oberfläche kommod machen. Das taten sie nicht jede für sich allein, sie bildeten vielmehr Kolonien, also Verbünde, in denen man sich im Überlebenskampf unterstützen konnte. Das Ganze erwies sich als Erfolgsmodell mit ungeahnten Folgen.

In den Verbünden der Cyanobakterien waren auch andere Organismen zugelassen, solange sie dem Ganzen nicht schadeten, ihm vielleicht sogar nützlich waren. Artfremde Bakterien waren auch deshalb willkommen, weil sie Aufgaben übernehmen konnten, für die den Cyanos die Voraussetzungen fehlten. Als Gegenleistung erhielten sie Energie in Form von Zucker. Zucker nur auf Zuteilung zu erhalten, wirkte jedoch als Aktionsbremse. Wollten diese Bakterien flexibel agieren, mussten sie die Energieversorgung in die eigenen Hände nehmen. Am einfachsten war es, eine Cyanobakterie in den eigenen Zellaufbau zu integrieren. Es spricht vieles dafür, dass auf diese Weise größere Bakterien mit eigener Photosynthese entstanden, die wir heute als Grünalgen bezeichnen. Die Zellverbünde der Cyanobakterien brachten noch eine weitere Neuerung hervor, denn ein Teil der Einzeller trennte sich im Zuge der Vermehrung nicht mehr völlig voneinander. Vielleicht war es die räumliche Enge in den Verbünden, vielleicht war auch die Kooperation auf diese Weise einfach effektiver, inmitten der Zellverbünde entstanden jedenfalls mehrzellige Gebilde, die unterschiedliche Formen annahmen. Einige entwickelten sich zu langen Fäden, die auf diese Weise relativ große Flächen erschließen konnten, andere bildeten kompakte Einheiten, die besser gegen äußere Einflüsse geschützt waren. Irgendwann waberten mehrzellige Wesen in hoher Dichte durch die Meere. Da sie mit der Photosynthese große Mengen an Kohlendioxid verbrauchten und gleichzeitig Sauerstoff freisetzten, veränderten sie nach und nach die Zusammensetzung der Atmosphäre.

In den Meeren war Kohlendioxid bereits zu einem relativ knappen Gut geworden, was zum begrenzenden Faktor für die Grünalgen wurde. In der Luft war zwar noch genügend Kohlendioxid vorhanden, doch um dieses nutzen zu können, musste man das Wasser verlassen. Da auf der Wasseroberfläche der Platz begrenzt und die Nährstoffe rar waren, blieb als Alternative nur die Eroberung des entstandenen Festlands. Ausgerechnet das Sonnenlicht, das man doch für die Photosynthese brauchte, stand diesem Plan entgegen. Im Wasser wurde der UV-Anteil des Lichts weitgehend absorbiert, außerhalb entfaltete er jedoch seine tötliche Wirkung. War es Berechnung oder war es Zufall, dieses Problem erledigte sich scheinbar von selbst. Das Sonnenlicht wandelte nämlich den von den Cyanobakterien und den Grünalgen freigesetzten Sauerstoff in den höheren Schichten der Atmosphäre zu Ozon um, der nun wie ein Schirm vor den tötlichen Strahlen schützte. Der Eroberung des Festlands stand jetzt tatsächlich nichts mehr im Wege.

Was hier so kurz erzählt daherkommt, nahm in der Realität allerdings einige Zeit in Anspruch. Mehr als eine Milliarde Jahre vergingen, bis aus Cyanobakterien einzellige Algen wurden, und dann noch einmal eine halbe Milliarde Jahre bis komplexe Mehrzeller, mithin Pflanzen, entstanden. Ehe einer dieser winzigen Vielzeller als Urahn der Landpflanzen in die Geschichte eingehen konnte, sollten nochmals Millionen von Jahren vergehen.1) Man nimmt heute an, dass es Nachfahren besagter Grünalgen waren, die als erste diesen Schritt taten. Einige von ihnen hatte es durch Überschwemmungen oder andere Widernisse in die Seen und Tümpel des Festlands verschlagen. Dort mussten sie immer wieder mit längeren Trockenzeiten zurechtkommen. Überleben konnte nur, wer den eigenen Körper vor Flüssigkeitsverlust schützte. Zu diesem Zweck bedeckten die Grünalgen ihre Oberfläche mit einer transparenten Hülle aus Wachsen und fetthaltigen Substanzen. Diese Hülle musste gleichzeitig den Gasaustausch erlauben, weshalb sie wahrscheinlich recht dünn war. Doch woher sollten die Algen Nährstoffe nehmen, wenn ihr Lebenselexier, das Wasser, zu einem knappen Gut geworden war? Möglicherweise waren sie in der Lage, Nährstoffe aus der Luft oder aus der sie umgebenden Restfeuchte zu ziehen. Wahrscheinlich hatten sie aber auch Partner, Pilze zum Beispiel, die ihnen halfen, das Leben auf dem Trockenen zu meistern.

Die Ahnen der Pilze stammten ebenfalls aus dem Meer. Man kannte sich also und hatte in den Zellverbünden schon Erfahrungen miteinander gesammelt. Pilze bilden lange Zellfäden, mit denen sie relativ große Flächen nach Nahrung absuchen können. Dadurch waren sie in der Lage, dem Verbund Nährstoffe zu liefern, die für die Cyanobakterien oder die Grünalgen nicht erreichbar waren. Für ihre Dienste wurden sie mit Zucker entlohnt. Um eine solche Zusammenarbeit auf dem Trockenen fortzusetzen, mussten die Pilze die erforderlichen Nährstoffe allerdings vom Boden aufnehmen. Da an der Oberfläche nicht viel zu holen war, stießen sie ins Erdreich vor. Die Grünalgen halfen ihnen, indem sie sich mit ihrem Korpus im Erdreich verankerten und so den Pilzen den Weg bereiteten. Für diese Annahme spricht, dass noch heute neun von zehn Pflanzen in einer vergleichbaren Symbiose mit Pilzen leben.

Wie dem auch sei, vor rund 480 Millionen Jahren begann die Begrünung des Festlandes. Es waren vor allem Moose, Nachfahren der Algen, die diesem Prozess zu rasantem Tempo verhalfen. Ebenso wie die Algen bilden auch Moose Sporen, die aber nicht durch das Wasser, sondern vor allem mit Hilfe des Windes, und dadurch schneller und weitflächiger, verbreitet werden. Treffen Sporen auf nährstoffreichen Boden, dann können sich neue Pflanzen bilden. Die neuen Pflanzen sind Klone, das heißt, ihr Erbgut gleicht dem der Mutterpfanze bis ins Detail. Diese Art der Fortpflanzung ist sehr effektiv. Ihr Nachteil besteht darin, dass sich Veränderungen im Erbgut, die für die Anpassung an neue Umweltbedingungen erforderlich sind, nur über Mutationen vollziehen können. Damit ist sie jedoch vom Zufall, dass ein passender Fehler auftritt, abhängig. Gerade an Land, wo Naturgewalten und Schwankungen im Klima häufig Veränderungen in den Bedingungen bewirkten, konnte dieses unsichere Prozedere zum tötlichen Handicap werden. Eine andere Strategie der Fortpflanzung musste her.

Die Lösung, die von der Natur gefunden wurde, war so simpel wie genial. Mutationen hatten bewirkt, dass Individuen entstanden waren, die zwar zur selben Art gehörten, sich aber in einigen Merkmalen unterschieden. Wenn zwei solcher Individuen ihr Erbgut vereinten, dann würde etwas Neues entstehen, das sich von beiden Eltern unterschied. Zum Zwecke einer solchen Vereinigung entwickelten sich zwei unterschiedliche, aber passfähige Keimzellen. Die einen waren fest im Lebewesen verankert, die anderen waren mobil, sie konnten mit Hilfe von Wind und Wasser auf Reisen gehen. Traf die reisende Keimzelle nun auf eine passfähige stationäre, dann konnten sich beide vereinen. Die beweglichen Keimzellen nennen wir männliche, die stationären weibliche. Der aus der Vereinigung entstehende Keim konnte nun seinerseits auf Reisen gehen und neue Lebensräume erschließen. Da die Nachkommen Eigenschaften der Eltern jeweils in unterschiedlichen Anteilen vereinen, unterscheiden sie sich voneinander. Diejenigen, die am besten mit den gegebenen Bedingungen klarkamen, vermehrten sich am stärksten und prägten fortan die Population.

Was sich einmal bewährt hat, wird von der Natur nicht so schnell preisgegeben. Das gilt auch für die Fortpflanzung durch Klonung. Wurden vereinzelte Samen in ein noch nicht besiedeltes Gebiet getragen, dann war dort eine geschlechtliche Fortpflanzung wegen fehlender Partner nicht möglich. In einer solchen Situation war es hilfreich, eine Alternative zu haben und mittels Klonung eine Kolonie gründen zu können. Die Klone waren zwar genetisch gleich, doch mit der Zeit bildeten sich auch hier durch Mutationen Individuen heraus, die eine geschlechtliche Fortpflanzung ermöglichten. Noch heute können sich etwa 40 Prozent aller Pflanzen durch Knospung, Ableger, Ausläufer und andere Formen ungeschlechtlicher Fortpflanzung ausbreiten. 2)

Die Entwicklung hatte nun richtig Fahrt aufgenommen. Bahnbrechende Innovationen brauchten nicht mehr Milliarden von Jahren, bereits in einigen Millionen Jahren konnten sich grundlegende Neuerungen durchsetzen. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Bedingungen auf Erden lebensfreundlicher geworden waren. Die neuen Vermehrungstechniken, die in relativ kurzer Zeit viele Variationen einer Pflanzenart hervorbringen konnten, trugen ebenfalls dazu bei. Es entstanden zum Beispiel Pflanzen, die durch eine dickere Hülle geschützt waren. Da der Gasaustausch trotzdem gesichert sein musste, bauten sie Spalte in die Oberfläche ein, die nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden konnten. Außerdem begannen die Pflanzen, sich dem Licht entgegenzustrecken. Dazu musste ihr Aufbau stabiler werden. Neuartige Moleküle wurden gebildet und so angeordnet, dass sie ein Stützkorsett ergaben. Zur Deckung des wachsenden Energiebedarfs brauchte man leistungsstarke Sonnenkollektoren, Blätter genannt. Der von ihnen produzierte Zucker wurde nicht nur als Energiereserve gebraucht, er diente auch als Ausgangsmaterial für die pflanzlichen Baustoffe. Dann war da noch das Problem mit dem Wasser, dass irgendwie aus dem Boden gesogen und durch die gesamte Pflanze bis zu den Blättern transportiert werden musste. Ein entsprechendes Wurzelwerk wurde gebildet, welches das Wasser, mitunter aus großen Tiefen, heranschaffte. Um dessen Transport zu gewährleisten, wurde über die Spalten der Blätter Feuchtigkeit verdunstet. Der auf diese Weise entstehende Sog, unterstützt durch ein System von sich ständig verjüngenden Röhren, ermöglichte diese logistische Meisterleistung.

In Bezug auf die Fortpflanzung sind ebenfalls Neuigkeiten zu vermelden. Bei dem so wichtigen Geschäft, wie es die Verbreitung der Samen darstellt, lediglich auf Wasser und Wind zu vertrauen, war auf die Dauer ein zu unsicheres Unterfangen. Mittlerweile gab es jedoch unzählige Krabbelwesen, die vor 400 Millionen Jahren begonnen hatten, das Land zu bevölkern. Ein Teil von ihnen konnte sogar fliegen und auf diese Weise größere Entfernungen zurücklegen. Diese Krabbelwesen, Insekten vor allem, waren zwar mitunter eine rechte Landplage, aber vielleicht konnte man sie ja zur Verbreitung des eigenen Samens gebrauchen. Dazu mussten sie irgendwie angelockt werden. Einige Pflanzen bauten um die Keimzellen herum ein Gebilde, Blüte genannt, dass durch seine Form, seine Farbe oder durch die Absonderung von speziellen Duftmolekülen diese Aufgabe erfüllte. Außerdem winkte dem Besucher süßer Nektar als Belohnung. Die einzelnen Krabbeltierchen entwickelten unterschiedliche Vorlieben hinsichtlich Farben, Formen und Gerüchen. Die Pflanzen spezialisierten sich mit ihren Blüten auf den Geschmack eines oder weniger dieser kleinen Helferlein, so dass man sich untereinander nicht in die Quere kam. Diese Strategie war in toto derart erfolgreich, dass heute 80 Prozent aller Pflanzen Blütenpflanzen sind.

Einige der Pflanzen hatten bereits eine erstaunliche Größe erreicht. Aber groß war nicht groß genug. Um noch weiter dem Licht entgegenstreben zu können, musste der eigene Aufbau verstärkt werden. Holz wurde zu einer weiteren bahnbrechenden Neuerung der Pflanzen. Um weit in den Himmel ragen zu können, war es erforderlich, sich im Boden zu verklammern, da sonst jeder Windstoß dem Streben nach Höherem ein jähes Ende bereiten würde. Starke Wurzeln, die sich fest im Untergrund verankerten, waren gefragt. Die Wurzeln dienen auch dem Einsammeln von Wasser und Nährstoffen. Damit sie wachsen und ihre vielfältigen Aufgaben erfüllen können, brauchen sie Energie. Außerdem sind sie bei ihrer Versorgungsaufgabe auf die Hilfe von Pilzen angewiesen, die mit Zucker entlohnt werden müssen. Mit anderen Worten, in den Wurzeln wird viel Zucker benötigt, dessen Produktion jedoch den Blättern obliegt, die ihrerseits dem Licht zustreben. Der Zucker musste also von den Blättern hoch oben durch die gesamte Pflanze bis nach unten in die Wurzeln geleitet werden. Dazu war ein Leitungssystem erforderlich, das mit Hilfe der Schwerkraft den Zuckerfluss durch den ganzen Baum hindurch gewährleistete.

Kaum war ein Problem gelöst, tauchte ein neues auf. Die Pflanzen hatten sich gewaltig vermehrt und eine große Artenvielfalt ausgebildet. Nährstoffreiche Gebiete waren bald dicht besiedelt, was zu einem Konkurrenzkampf um Rohstoffe und Energie führte. Der Pflanzenreichtum lockte auch haufenweise Parasiten und Schmarotzer an, die die fleißigen Pflanzen anzapften und ihnen Mineralstoffe und Zucker entzogen, ohne eine Gegenleistung dafür zu liefern. Noch gravierender war, dass eine andere Gruppe von Lebewesen, Tiere nämlich, sich ebenfalls aufgemacht hatte, das Festland zu erobern. Für ihre Ernährung hatten sie sich die Pflanzen, wen sonst, auserkoren. Auf all diese Bedrohungen mussten die Pflanzen reagieren. Sie mussten sich also der Konkurrenz anderer Pflanzen erwehren, Parasiten bekämpfen und sich vor dem übermäßigen Befraß durch Tiere schützen. Außerdem galt es, sich stets von neuem den sich verändernden Umweltbedingungen anzupassen, die Vermehrung zu gewährleisten und neue Lebensräume zu erobern. Für die Bewältigung all dieser Herausforderungen war eine Interaktion mit der Umwelt erforderlich, für die möglichst viele Informationen benötigt wurden. Charakteristisch ist jedoch, dass die Aktionen der Pflanze nicht von einer Zentrale aus gesteuert werden.

Nehmen wir das Wachstum der Pflanze als Beispiel. Für ihr Wachstum braucht sie eine Richtung, in die es gehen soll – die Wurzeln nach unten und die Triebe nach oben,zum Beispiel. Aber, wo ist oben und wo ist unten? Die Pflanzen entwickelten spezielle Zellen, in denen sie mit Hilfe kleiner Kügelchen, die von der Schwerkraft an die Zellwand gedrückt werden, festgestellen kann, ob die Wurzelspitze nach unten und der Trieb nach oben zeigt. Erspürt die Wurzel ein Hindernis, muss sie ausweichen, um nach dessen Wegfall den Weg nach unten fortzusetzen. Auch in ihrem Streben zum Licht müssen die Triebe manche Verrenkung in Kauf nehmen, um in höhere Regionen vorzustoßen. Dann ist da noch der Rhythmus von Tag und Nacht, dem sich die Pflanzen anpassen müssen. In der Nacht steht keine Sonnenenergie zur Verfügung, so dass sich auch die Photosynthese nicht vollziehen kann. Zeit ist im Leben jedoch ein rares Gut. Um die der Nacht nicht zu vergeuden, musste die Photosynthese in zwei Schritte aufgeteilt werden. Am Tag wird die Sonnenenergie eingesammelt und auf chemischen Wege zwischengelagert, während in der Nacht Kohlendioxid der Luft mit Hilfe dieser Energie zu Zuckermolekülen umgebaut wird. Zur Steuerung dieses Rhythmusses entwickelten die Pflanzen eine innere Uhr aus Proteinen, die nach einem festgelegten Schema auf- und wieder abgebaut werden. Das heißt, die Pflanze misst die Zeit mit Hilfe von Prozessen gleichbleibender Dauer, ein Prinzip, das auch für uns Grundlage jeglicher Zeitmessung ist. Der Nachteil dieses Systems besteht darin, dass es jahreszeitlich bedingte Änderungen der Tag/Nacht-Wechsel nicht berücksichtigen kann. Weitere Impulse, die aus der Länge und der Intensität der Sonneneinstrahlung entstehen, mussten hinzukommen, um die Pflanze in die Lage zu versetzen, sich nicht nur in den Tages- sondern auch in den Jahreszeiten zu orientieren. 2)

Die genannten Beispiele sind jedoch nicht die einzigen Informationsquellen, die sich Pflanzen erschlossen haben. In den letzten Jahren wurden eine ganze Reihe von Wahrnehmungen der Pflanzen nachgewiesen, wobei zur Informationsübertragung nicht nur Botenstoffe, sondern auch elektrische Impulse eingesetzt werden. Einige Pflanzen können zum Beispiel durch die Luft wirbelnde Moleküle wie auch in Flüssigkeiten gelöste Substanzen erkennen. Andere nehmen Schallwellen, Licht verschiedener Frequenz, Druck, äußere Feuchtigkeit oder Wärmequellen wahr. All diese Wahrnehmungen der Pflanzen basieren auf relativ einfachen Wirkprinzipien, die man, zumindest in Teilen, bereits bei einzelligen Lebewesen findet. Die Sinne der Tiere basieren im Übrigen auf durchaus vergleichbaren Prinzipien. Die Unterschiede in den Wahrnehmungen von Einzellern, Pflanzen und Tieren resultieren also nicht in erster Linie aus den ihnen zugrundeliegenden Wirkprinzipien, sie sind vielmehr in der wachsenden Empfindlichkeit der Sensorzellen, in der zunehmenden Komplexität der Sinnesorgane und vor allem in der Art und Weise, wie die gewonnenen Informationen weitergeleitet, verarbeitet und genutzt werden, begründet.

zuletzt geändert: 15.07.2019

1) GEO kompakt Nr. 38, Seite 38 ff sowie Seite 150

2) ebenda, S. 68

3) ebenda, Seite 24 ff

4) ebenda, S. 123

Bild: soziologie-etc.com

Veröffentlicht unter Leben

Klein, aber oho!

bakterie

Nirgends hat dieser Ausruf wohl mehr Berechtigung als in Bezug auf Mikroorganismen. Liest man Fakten zu dieser kleinsten Form des Lebens, dann weiß man nicht so recht, ob man sich nur wundern oder doch eher gruseln soll. Vielleicht stellt sich auch ein Staunen ob ihrer Vielfalt ein, Entzücken über ihre Pracht wohl weniger, da man sie nicht sieht, jedenfalls nicht mit bloßem Auge. Wenn überhaupt, dann nimmt man sie meist als Erreger von Krankheiten wahr. Fakt ist jedoch, dass schätzungsweise 2 bis 3 Milliarden Arten dieser Lebewesen „unseren“ Planeten bevölkern. Es sollen jedoch erst 0,5% der Arten überhaupt entdeckt und klassifiziert sein, von denen übrigens die wenigsten Krankheiten verursachen.1) Manche der von ihnen ausgelösten Krankheiten sind allerdings furchteinflößend, wie die Pest, die im 14. Jahrhundert innerhalb von gerade einmal vier Jahren ein Drittel der Menschen Europas dahinraffte. Sie schwappte auch in anderen Zeiten immer wieder in Wellen des Todes über Länder und Kontinente. In den Jahren 1918/19 war es die „Spanische Grippe“, die mehr Menschenleben gefordert haben soll als der  gesamte Weltkrieg davor. 2) Auf der anderen Seite der Bilanz steht jedoch, dass ohne die Hilfe der Mikroorganismen weder Pflanzen noch Tiere überleben könnten. Abgesehen davon, wäre unser Leben auch um manchen Genuss ärmer.

Mikroorganismen sind meist Einzeller. Zu ihnen gehören Bakterien genauso wie einfache Pilze, Mikroalgen und Urtierchen. Man könnte auch die Viren zu den Mikroorganismen zählen, was jedoch wegen des Fehlens eines eigenen Stoffwechsels umstritten ist. Mikroorganismen kommen praktisch überall vor – in der Luft, im Wasser, in der Erde und natürlich in und auf anderen Lebewesen. Die Zahl der Mikroorganismen, die ein Mensch mit sich herumschleppt, schätzt man auf 1 Billiarde. Damit übertrifft die Zahl der Mikroorganismen die Zahl der körpereigenen Zellen deutlich. Allein in einer Probe menschlicher Atemluft hat man 1800 Bakterienarten festgestellt.3) In den Ozeanen sollen bis zu 10 Millionen Arten leben. Wer hat die nur alle gezählt? Aber egal, ob es nun ein paar Millionen mehr oder weniger sind, fest steht, wir sind von ihnen umzingelt. Sie sind überall. Wie konnte das passieren?

Nun, sie waren einfach als erste da. Die Erde ist zirka 4,6 Milliarden Jahre alt. 4) Vor vielleicht 3,8 Milliarden Jahren traten die ersten Mikroorganismen auf. 1) Vielzeller entwickelten sich vor ungefähr 600 Millionen Jahren und der „moderne“ Mensch gar erst vor 130.000 Jahren. Er ist, gemessen an den Mikroorganismen, ein rechter Jungspund. Die Mikroorganismen hatten also alle Zeit, diese Welt bis in die unwirtlichsten Nischen hinein zu besiedeln. Die Frage ist also weniger, warum die Mikroorganismen zahlen- und artenmäßig allen anderen Lebewesen überlegen sind, vielmehr sollte man fragen, warum sie die Ausbreitung anderer Lebewesen überhaupt zugelassen haben. Entweder sie haben die „Großen“ nicht als Bedrohung empfunden, oder sie haben sich sogar Vorteile von deren Existenz versprochen. Wahrscheinlich würde es ihnen nicht schwerfallen, dem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten, wenn ihnen die Sache lästig wird. Das wäre aber eher ein Thema für einen Phantasie-Thriller.

Für uns ist an dieser Stelle wichtiger zu klären, wie Mikroorganismen entstanden sind, wie sich aus lebloser Materie Leben entwickelte. Schauen wir uns dazu die Gegebenheiten in der Frühzeit der Erde an. In den ersten 500 Millionen Jahren nach der Entstehung des Sonnensystems herrschte ein bemerkenswertes Chaos in demselben. Unmengen von Kometen jeder Größe schwirrten durch den Raum und stießen auch mal mit Planeten zusammen. Diese Kollisionen blieben nicht folgenlos, denn die Kometen brachten eine Reihe von Stoffen mit. Auf diese Weise gelangte Wasser in großen Mengen auf die Erde, ein dort bis dahin eher rarer Stoff. Dies ist zumindest eine der Theorien darüber, wie die Erde zum blauen Planeten wurde. Die Erdatmosphäre, die anfangs vor allem aus Wasserstoff, Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff bestanden hatte, wurde mit Stickstoff, Ammoniak und Edelgasen angereichert. Außerdem hatten sich bei der Entstehung der Erde Erze und Minerale gebildet, die nun im Erdmantel schlummerten. Das heißt, es war eine beachtliche stoffliche Vielfalt vorhanden.

Irgendwann neigte sich die stürmische Frühzeit des Sonnensystems ihrem Ende zu und der Kometenhagel versiegte. Trotzdem verlief auf Erden noch lange nicht alles in geordneten Bahnen, denn es brodelte an allen Ecken und Enden. Die Luft war heiß, die Ozeane dampften, Landmassen bildeten und veränderten sich, überall schoß Lava hervor. Nicht nur die noch junge Erde war überaus aktiv, auch unsere Sonne war ein einziger Hexenkessel, der riesige Mengen Energie in alle Richtungen verschleuderte. Diesen Energiestürmen konnte sich die Erde nicht entziehen, so dass atmosphärische Entladungen mit gewaltigen Blitzen und Blitzkaskaden an der Tagesordnung waren. Die ungebändigte Energie verursachte chaotische Zustände, in denen sich immer neue stoffliche Strukturen bildeten, aber auch wieder zerstört wurden.

Als Ergebnis dieses Prozesses waren unter anderen Nukleinsäuren und Aminosäuren entstanden, für deren Bildung günstige stoffliche Voraussetzungen herrschten. Aus der Verbindung von Aminosäuren mit Metallen und Mineralen ging eine große Vielfalt von Eiweißen hervor. Sie entstanden jedoch völlig willkürlich, das heißt sie bildeten sich irgendwann und irgendwo, existierten eine gewisse Zeit lang, um dann unter dem Einfluss ihrer Umwelt wieder aufgelöst zu werden. Hinzu kam die stoffliche Vielfalt ihrer jeweils mehr oder weniger kurzen Existenz, so dass an eine Fortentwicklung zu komplexeren Strukturen nicht zu denken war. Für einen solchen Schritt war eine Basis, das heißt eine größere Anzahl gleicher Verbindungen erforderlich. Diese konnte jedoch nur entstehen, wenn es gelang, vorhandene Moleküle zu vervielfältigen. Eiweiße kamen dafür nicht in Frage, da sie eine nur schwer kopierbare dreidimensionale Struktur besitzen. Nukleinsäuren sind einfacher aufgebaut, ihre Bausteine reihen sich fortlaufend aneinander. Außerdem besitzen sie ein spezifisches katalytisches Potential, das sich in der gegenseitigen Anziehung ihrer Bausteine äußert. Basenpaarung nennt man das. Die Ribonukleinsäure hat darüber hinaus noch eine ganz besondere Macke, denn einige Abschnitte des RNA-Moleküls können bewirken, dass andere vom Verbund abgetrennt werden. Unter anderen Umständen wäre eine solche Selbstverstümmelung wahrscheinlich tötlich, hier wurde sie jedoch zur Lösung des Problems, denn sobald sich das RNA-Molekül zerteilte, wurden die Reste durch das Paarungsstreben der Basen wieder komplettiert. Auf diese Weise wurde das gesamte Molekül dupliziert.2)

Damit war das Problem aber noch nicht ganz gelöst, denn die sich so munter verdoppelnden Moleküle wurden in der energiegeladenen Umwelt bald wieder zerstört. Sie brauchten einen Schutz, eine Hülle, die sie vor marodierender Energie und anderen Störenfrieden abschirmte. Die Schutzhülle durfte jedoch keine undurchdringliche Mauer bilden, denn sie musste einige Stoffe, die für die Vermehrung erforderlich waren, passieren lassen und gleichzeitig den Abfall nach außen leiten. Irgendwann fanden sich tatsächlich Stoffe, Fette vor allem, die diesen Anforderungen genügten. Die nunmehr umhüllte RNA wurde zu einem eigenen kleinen Kosmos, Zelle genannt. Für die Vermehrung der Zelle reichte es jedoch nicht aus, nur die RNA zu kopieren, auch die Hülle und alle inneren Bestandteile mussten geteilt und verdoppelt werden. Dafür brauchte man einen Bauleiter, der die Maßnahmen koordinieren und in der richtigen Reihenfolge in Gang setzen konnte. Diese Aufgabe konnte nur die RNA übernehmen. Aber, was nutzt ein Chef, wenn es an Baumaterial fehlt? Das heißt, die Vermehrung konnte nur gelingen, wenn genügend aus dem Erdmantel gelöst Minerale und Metalle verfügbar waren. Die ebenfalls erforderliche Energie gab es im Überfluss. Hier bestand das Problem eher darin, einen gleichbleibend mäßigen Zufluss zu sichern, denn allzu große Schwankungen würden die gerade entstandenen Zellen vernichten. Beide Voraussetzungen waren in der Umgebung von hydrothermalen Quellen am Grund der Tiefsee gegeben. Sie könnten die Kinderstube des Lebens gewesen sein.

Aus der obigen Schilderung mag man den Eindruck gewonnen haben, dass die Entstehung des Lebens ein folgerichtiger, beinahe zwangsläufiger Prozess war. Das wäre jedoch ein Trugschluss. In Wahrheit verging ein unvorstellbar langer Zeitraum von mehreren hundert Millionen Jahren bis sich erste reproduktionsfähige organische Strukturen herausgebildet hatten. Unzählige Versuche waren gescheitert, entweder war das Ergebnis nicht ausreichend oder die entstandenen Strukturen wurden in einer energiegeladenen Umwelt wieder zerstört. Nur über die Länge der Zeit und durch die Gunst vergleichsweise stabiler äußerer Bedingungen war es möglich, dass Gebilde aus verschiedenen organischen Bausteinen entstehen konnten, die einerseits ein abgeschlossenes Ganzes bildeten und die sich andererseits in Interaktion mit der Umwelt vermehren konnten.

Irgendwann waren also Einzeller entstanden, die die Voraussetzungen für eine schnelle Vermehrung mitbrachten. In der RNA waren die Informationen zum Aufbau der Zelle gespeichert und sie besaß die Fähigkeit, diese zu kopieren. Als begrenzender Faktor für die Vermehrung erwies sich nun der Umstand, dass die erforderlichen Baustoffe genau in der Form vorgefunden werden mussten, die gerade benötigt wurde. Durch die Vielfalt der Stoffe war die Wahrscheinlichkeit, die jeweils benötigten in unmittelbarer Nähe und dann auch noch in ausreichender Menge vorzufinden, nicht sehr groß. Nur, wenn die Einzeller in die Lage kämen, die wichtigsten dieser Stoffe, wie die erforderlichen komplexen Eiweiße, selbst zu synthetisieren, dann sähe die Sache anders aus. Mit der Herstellung komplexer Eiweißmoleküle war die RNA jedoch überfordert. Der Trick, mit dem die Aufgabe letztlich doch gemeistert wurde, bestand darin, dass die RNA die Synthese relativ einfacher Eiweiße mit speziellen katalytischen Eigenschaften auf den Weg brachte, die wiederum andere Stoffe zu bestimmten Reaktionen veranlassen konnten. Diese als Enzyme bekannten Eiweiße werden auf Veranlassung der RNA in einer solchen Reihenfolge bereitgestellt, dass die daraus resultierende Abfolge von Wirkungen und Reaktionen schlussendlich zum Aufbau der erforderlichen komplexen Eiweiße führt. 5)

Der schnellen Vermehrung der Einzeller stand nun wirklich nichts mehr im Wege. Die schnelle Vervielfältigung wurde sogar zu ihrem Markenzeichen. Eine schnelle Vermehrung führt jedoch zu Fehlern, vielleicht, weil der Bauplan nicht exakt kopiert wurde, weil die Baustoffe nicht wie erforderlich zur Verfügung standen oder weil beim Aufbau der Eiweiße gepfuscht worden war. Natürlich konnten auch Wirkungen von außen zu Fehlern beitragen. Die meisten der fehlerhaften Klone wurden als Ausschuss entsorgt. Einige waren jedoch überlebensfähig, mitunter kamen sie sogar besser als ihre Vorgänger mit den gegebenen Bedingungen zurecht. Jedenfalls gelang es den Mikroorganismen, sich durch Veränderungen in ihrem Bauplan unter beinahe allen Bedingungen zu behaupten und den gesamten Planeten zu besiedeln. Den in dieser ersten Phase entstandenen Mikroorganismen war gemeinsam, dass sie ohne Sauerstoff auskamen, denn der stand nicht zur Verfügung. Man bezeichnet sie deshalb als anaerob. Die anaeroben Mikroorganismen wurden zu unumstrittenen Herrschern auf Erden, und dies für den unvorstellbaren Zeitraum von beinahe einer Milliarde Jahren.

Immer nur auf Energiequellen aus dem Erdinnern angewiesen zu sein, war jedoch lästig, zumal das Sonnenlicht praktisch unbegrenzt zur Verfügung stand. Einige der Mikroorganismen fanden dann auch einen Weg, diese Energiequelle für sich nutzbar zu machen. Die Cyanobakterien waren mit der Photosynthese besonders erfolgreich, auch weil sie dafür lediglich Wasser und Kohlendioxid benötigten, die ausreichend vorhanden waren. Bei der Photosynthese, wird jedoch Sauerstoff freigesetzt, der über die Jahrmillionen die stoffliche Zusammensetzung der Luft und dann auch des Wassers veränderte. Dumm nur, dass Sauerstoff für anaerobe Lebewesen einem Gift gleichkommt. Ihre bahnbrechende Erfindung wurde daher irgendwann auch ihr Verhängnis, in dessen Folge sie gezwungen waren, das Feld den anderen, den sauerstoffliebenden Mikroorganismen zu überlassen. Sie selbst zogen sich in unwirtliche Gegenden wie Sedimente und Schlämme zurück. Später besiedelten sie auch so beschauliche Fleckchen wie die Gedärme von Menschen und anderem Getier. Trotzdem zählen anaerobe Mikroorganismen auch heute noch mehr Arten als alle höheren Lebewesen zusammen. 5)

Mit der größer werdenden Artenvielfalt bildeten sich auch sehr unterschiedliche Fähigkeiten der Einzeller aus, die mit entsprechenden Veränderungen in ihrem Zellaufbau verbunden waren. Da sie teilweise über mehrere solcher Fähigkeiten verfügten, wurden die Informationen, die an die Nachkommen weitergegeben werden mussten, immer komplexer. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die RNA gegen Wirkungen von außen recht anfällig war, so dass umfassende Informationen oft nicht fehlerfrei an Nachkommen weitergegeben werden konnten. Die DNA war besser geeignet, komplexe Informationen zu bewahren, jedenfalls waren Organismen, die die DNA zur Weitergabe ihres Bauplanes nutzten, erfolgreicher bei der Erorberung neuer Lebensräume. Gefahr drohte aber nicht nur von außen. In der Zelle selbst waren mittlerweile ebenfalls vielfältige Bestandteile vorhanden, die Wirkungen auf andere, also auch auf die Erbinformationen, ausübten. Die Stoffwechselprozesse sorgten ebenfalls für Gefährdungen, so dass es irgendwann erforderlich wurde, die Erbinformationen mit einer schützenden Hülle zu umgeben. Ein Zellkern entstand.

Einzeller brauchen für ihre Lebensprozesse wie auch für die Vermehrung eine Vielzahl von Stoffen. Um diese aus der Umwelt aufnehmen zu können, entwickelten sie Sensoren, mit denen die erforderlichen Substanzen identifiziert werden konnten. Nur, was macht man, wenn deren Konzentration geringer wird? Dann muss man sie an anderen Orten suchen, das heißt, man muss sich fortbewegen. Da für eine Bewegung Energie verausgabt wird, ist eine solche Aktion mit einem gewissen Risiko verbunden. Eine Alternative wäre, auf Aktivitäten gänzlich zu verzichten und auf diese Weise Energie zu sparen. Viren „leben“ dieses Modell erfolgreich vor, zumindest ist ihre Artenvielfalt nicht geringer als die der aktiven Verwandten. Ihr passiver Lebensstil hat nämlich einige Vorteile. So können sie sich besser gegen äußere Einflüsse schützen, da sie nicht auf die Aufnahme von Stoffen und Energie aus der Umwelt angewiesen sind. Aus dem gleichen Grund kommen sie mit einem deutlich geringeren Volumen aus, was sie ebenfalls widerstandsfähiger werden lässt. Nicht zu vergessen, dass mit dem permanenten Stoffwechsel, wie ihn die aktiven Zeitgenossen benötigen, erhebliche Gefahren verbunden sind. In der tätigen Zelle müssen eine Vielzahl von Stoffen vorgehalten und Prozesse realisiert werden, von denen Wirkungen auf die Zellstruktur ausgehen und sie tendenziell zerstören. Mit anderen Worten, das Tätigsein hat den Preis des Verschleißes, der irgendwann zum Exodus führt. Diesen Nachteil gleichen die tätigen Einzeller dadurch aus, dass sie selbst Einfluss auf ihre Vermehrung nehmen können. Die passiven Zeitgenossen haben zwar keinen inneren Verschleiß zu fürchten, sie haben jedoch auch keinen Einfluss darauf, ob und wann ihnen eine passende Wirtszelle für die Vermehrung beschert wird.

Die Geschichte der Evolution zeigte, dass der Fortschritt mit den Aktiven ist. Sie sind zudem meist gesellige Wesen. Nehmen sie die Nähe von Artgenossen durch Moleküle, die diese absondern, wahr, dann ist das ein Signal dafür, dass man beieinander bleiben kann. In den auf diese Weise entstehenden Gemeinschaften entwickelte sich nach und nach eine Arbeitsteilung. Jeder sollte sein Bestes für den Erhalt und das Gedeien des Ganzen geben. Von solchen Gemeinschaften war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Herausbildung mehrzelliger Wesen. Dass dieser Schritt gerade vor rund 600 Millionen Jahren gegangen wurde, hängt mit der zu dieser Zeit herrschenden Totalvereisung des Planeten zusammen. Die verschlechterten Lebensbedingungen beförderten die Verschmelzung der Zellen zu komplexen, ganzheitlich gesteuerten Einheiten, die selbst unter komplizierten Bedingungen die Fähigkeit zur Anpassung bewahrten.

 zuletzt geändert: 15.07.2019

Quellen:

1) Wikipedia, Stichwort Mikroorganismen

2) vgl. Gerhard Gottschalk, Welt der Bakterien, WILEY-VCH Verlag, Weinheim 2009

3) Nathan Wolfe, Mikroben: Unsere kleinen Freunde, www.nationalgeographic.de

4) Wikipedia, Stichwort Erde

5) vgl. Bernard Dixon, Der Pilz, der John F. Kennedy zum Präsidenten machte, Spektrum Akadem. Verlag 2009

Veröffentlicht unter Leben