Die Straße scheint ja gerade noch breit genug zu sein, damit alle schön nebeneinander laufen können. Die Großen am Rand schützen die Flanken. Die Kleinen sind mittendrin, wohlbehütet. Auf diese Weise ist die Gruppe sicher. Anscheinend hat ihnen aber niemand gesagt, dass sie auch auf Autos achten sollten. Die Evolution hat nämlich irgendwann fahrende Blechschüsseln hervorgebracht, die nun die Wege unsicher machen. Das Überleben wird immer schwieriger, nicht nur für Elefanten.
Im Laufe der Evolution wuchsen die Möglichkeiten der Tiere, verschiedenartige Informationen in einen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Dazu werden die Informationen, die die Sinneszellen über die Außenwelt liefern, mit Erfahrungen abgeglichen und bewertet. Die Bewertungen spiegeln sich in Gefühlen wider, mit denen die Informationen in die Prioritätenfindung eingehen. Außerdem kommen Informationen über die eigene Befindlichkeit hinzu, denn auch Hunger, Durst oder Müdigkeit können das Verhalten beeinflussen, Krankheiten oder Schmerzen die körperlichen Möglichkeiten beschränken. Ein Reh mit einem verletzten Lauf hat keine Chance dem Wolf durch Flucht zu entkommen. Seine Entscheidung kann nur darin bestehen, sich zu verstecken und zu hoffen, dass Isegrimm nicht aufmerksam wird. Will sich das Reh verstecken, muss es eine Vorstellung von sich selbst haben. Größe und Fellfarbe müssen mit dem gewählten Versteck harmonisieren, damit es dem geübten Auge des Räubers entgeht. Mag sein, dass in diesem Fall die Kriterien für ein Versteck nicht aus der Selbstreflexion des Rehs erwachsen, sondern instinkthaft vorhanden sind. Mit der Zeit gewannen die Tiere jedoch immer mehr Fähigkeiten, die nur sinnvoll eingesetzt werden konnten, wenn auch eine Vorstellung von der eigenen Verfasstheit vorhanden war. Ist der Arm zu kurz, um an das Leckerli zu gelangen, wird sich das Äffchen nach mehreren nutzlosen Versuchen womöglich ein Stöckchen nehmen und sich mit dessen Hilfe den Happen angeln. Damit hat es etwas über seine körperliche Begrenztheit erfahren und gleichzeitig sein Verhalten darauf eingestellt.
Die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten gewinnt in einer Gruppe besondere Bedeutung. Eine Gruppe, ein sozialer Verbund, funktioniert nur, wenn jeder seine Stellung und seine Aufgaben kennt und entsprechend handelt. Das Kennen der eigenen Aufgaben schließt ein, dass man eine Vorstellung davon hat, welche Stellung die anderen im Verbund innehaben. Dazu muss man sie auseinanderhalten, das heißt man muss die anderen anhand physischer Besonderheiten, wie Geschlecht, Alter und Körpergröße oder auch nach ihrem Geruch, dem Klang ihrer Stimme oder anderen Merkmalen unterscheiden. Wenn man die anderen unterscheiden kann, dann entsteht das Bedürfnis, auch sich selbst von anderen, zum Beispiel über physische Besonderheiten, abzugrenzen. Einige Tierarten haben darüber hinaus eine recht differenzierte Vorstellung von ihrem eigenen Abbild entwickelt, so dass sie ihr Spielbild erkennen. Dieses visuelle Erkennen führt zu einer Bewertung des eigenen Bildes, und sei es drum, dass da ein ärgerlicher Fleck auf dem Federkleid ist, der da nicht hingehört. Neben äußeren Merkmalen spielt auch die Körperkraft eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung der Akteure. Sie kann für die Stellung in der Gruppe sogar entscheidend sein, denn der stärkste wird Chef, dem alle anderen Gehorsam schulden. Auf diese Weise bildet sich eine Hierarchie heraus, die zu einem wichtigen Merkmal des Lebens der Gruppe wird. Sie hilft, das erforderliche Zusammenwirken zu sichern, außerdem befördert sie die natürliche Auslese, da es dem Chef vorbehalten ist, seine Gene weiterzugeben.
Die Entstehung sozialer Gruppen ist eng mit der Entstehung des Gedächtnisses und der Herausbildung von Entscheidungsprozessen verbunden. In diesem Sinne sind Fischschwärme oder Insektenstaaten keine sozialen Gruppen. Ihr Verhalten wird durch ererbte Automatismen des Handelns bestimmt, eine Bewertung von Situationen oder Verhaltensweisen findet nicht statt. Dinosaurier waren dagegen bereits in der Lage, komplexe Situationen zu erfassen und Entscheidungen zu Handlungsalternativen herbeizuführen. Die soziale Struktur ihrer Gruppen war zwar, soweit man weiß, gering ausgeprägt, trotzdem verschaffte ihnen die Gemeinschaft Vorteile im Überlebenskampf. Mit der Gruppe fand man schneller Wasser oder Nahrung beziehungsweise man konnte sich wirksamer gegen Angreifer verteidigen. Um die Vorteile, die eine Gemeinschaft bieten kann, auszuschöpfen, mussten sich die Akteure irgendwie untereinander verständigen, das heißt, Mittel zur Kommunikation entwickeln.
Nach der großen Katastrophe und dem Untergang der Dinosaurier traten Säugetiere und Vögel deren Erbe an. Vögel bilden sehr unterschiedliche Zweckbünde. Wir beobachten zeitweise oder dauerhafte Brutpaare genauso wie Fluggemeinschaften in entfernte Weltengegenden oder Gruppen, die in einem gemeinsamen Lebensraum den Nachwuchs behüten. Hierarchien spielen in diesen Gemeinschaften kaum eine Rolle. Das sieht bei den Säugetieren anders aus. Zwar sind die sozialen Gruppen der Säugetiere ebenfalls vielgestaltig, es entstanden kleine Familienverbände genauso wie große Herden, aber eine Rangordnung ist in ihnen die Regel. Zum Anführer einer Herde schwingen sich meist die stärksten Tiere auf, mitunter auch die klügsten. Sie stehen für eine längere Zeit an der Spitze der Hierarchie. Wenn es dagegen in Vogelschwärmen notwendig wird, dass ein Tier die Führungsrolle übernimmt, dann wechseln sich die Tiere in dieser Aufgabe ab. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass die Verantwortung der Entscheidungsfindung an den Anführer abgegeben wird, obwohl jedes einzelne Tier fähig wäre, Entscheidungen zu treffen. Sehr eindrucksvoll lässt sich dies bei Pferden beobachten, die am liebsten blind dem Leittier folgen. Signalisiert dieses eine Gefahr, rennen alle los, als wären sie selbst gerade gebissen worden. Herdentrieb soll allerdings auch bei Menschen schon beobachtet worden sein.
Mit der Zunahme der geistigen Fähigkeiten wurden auch die sozialen Beziehungen in den Gruppen vielschichtiger. Das Zusammenleben basierte nun nicht mehr nur auf der Unterordnung unter ein Leittier, es bildeten sich darüber hinaus unterschiedlich gefärbte Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aus. In solchen Gruppen werden die einzelnen von den anderen nicht nur erkannt, sondern ihnen wird unabhängig von der Rangstellung auch eine Bewertung beigegeben. Diese Bewertung drückt sich in einem Gefühl aus, das mit dem jeweiligen Individuum verbunden wird und dadurch das Verhalten zu ihm beeinflusst. Mit einigen pflegt man engeren Kontakt, weil man sie mag, anderen geht man lieber aus dem Wege. Die Bewertung, die dem einzelnen beigegeben wird, kann durch die eigene Lebenserfahrung, durch Vorlieben oder auch durch besondere Erlebnisse beeinflusst sein. Hat jemand in einer schwierigen Situation geholfen oder Schutz gewährt, dann wird dieses Erlebnis die Beziehung des Betreffenden zum Helfer prägen. Das damit verbundene Gefühl könnte man als Dankbarkeit beschreiben. Aber auch Zorn über erfahrene Nichtachtung, Neid auf den Erfolg des anderen oder Abscheu als Ausdruck völliger Ablehnung können solche besonderen Beziehungen ausdrücken. Die Einschätzung, die mit anderen verbunden wird, ist aber nicht nur durch eigene Erlebnisse bestimmt, denn auch andere haben Erfahrungen mit diesem und jenem, die sie nur allzu gern weitergeben. Die Weitergabe einer Bewertung kann bereits durch das Verhalten dem Betreffenden gegenüber erfolgen, da es von anderen beobachtet wird. Umgekehrt, lassen sich aus dem Verhalten der anderen Schlüsse zur eigenen Stellung in der Gruppe ziehen. Bewertungen werden aber auch auf direktem Wege kommuniziert, zumal auf diese Weise gezielt Einfluss auf das Verhalten der Gruppe genommen werden kann.
Wahrscheinlich sind die nach und nach erreichten Fortschritte in der Kommunikation auf die Erfordernisse des Zusammenlebens zurückzuführen, manche sind allerdings der Meinung, dass der Drang nach Klatsch und Tratsch dafür entscheidend war. Wie dem auch sei, die Mittel zur Kommunikation wurden im Laufe der Evolution vielfältiger. Begonnen hatte alles mit Botenstoffen, die bereits von den Einzellern genutzt wurden, um Kollonien zu bilden. Botenstoffe sind auch für Pflanzen das vorherrschende Kommunikationsmittel. Tiere können sich darüber hinaus durch Bewegungen verständigen. Bei Bienen beobachtet man zum Beispiel, dass sie sich mit einem „Tanz“ auf Nahrungsfundorte aufmerksam machen. Diese Kommunikation beruht darauf, dass ein bestimmtes Verhalten mit einer festgelegten Bedeutung verbunden ist. Diese Bedeutung muss die Biene nicht erlernen, dieses „Wissen“ ist in ihren Genen verankert.
Den Tieren, die auf im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen zurückgreifen können, eröffneten sich neue Möglichkeiten, was nicht heißt, dass auf bereits bewährte Mittel der Kommunikation verzichtet wurde. Botenstoffe werden zum Beispiel weiterhin genutzt, um bestimmte körperliche Dispositionen zu signalisieren. Ist der Körper der Hirschkuh zur Empfängnis bereit, setzt er einen Stoff frei, der, so er vom König des Waldes registriert wird, bei diesem Paarungsdrang auslöst. Auch Bewegungen, die instinktiv verstanden werden, bleiben im Repertoire. Dass das Schwanzwedeln mit erhobener Rute eine freudige Erregung ausdrückt, braucht der junge Hund nicht zu lernen, es gehört zu seinem ererbten Wissen. Dass der aufgestellte Schwanz der Katze nichts mit freudiger Erwartung zu tun hat, kann er dagegen nur schwerlich begreifen. Schmerzhafte Erfahrungen werden ihn lehren, solchen Tieren tunlichst aus dem Weg zu gehen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses erlangt die Kommunikation jedoch größere Flexibilität, da die Laute und Gesten wie auch die Körpersprache und die Mimik nun je nach Situation variiert werden konnten. Diese Flexibilität hatte aber einen Preis, denn die Bedeutung der immer vielfältiger gewordenen Laute und Gesten konnte nicht mehr vererbt werden, man musste sie erlernen.
Das Lernen, das heißt die Übernahme von Erfahrungen und Wissen, gewann für das Leben der Gemeinschaften insgesamt größere Bedeutung. Lernen kann man zum Beispiel durch das Nachahmen von Handlungen. Sieht die junge Katze, wie die Mutter eine Maus jagd, wird sie versuchen, es ihr nachzutun. Mit dem Nachahmen entsteht eine eigene Erfahrung, die vom Gedächtnis bewahrt wird. Erfahrungen können auch durch das gezielte Vorspielen eines Geschehens weitergegeben werden. Auf diese Weise kann für den Lernenden das gute Gefühl des Erfolgs einer Handlung wie auch das unangenehme einer Niederlage erfahrbar werden, auch wenn er selbst nicht am Geschehen beteiligt war. Im Alltag kann man das erforderliche oder erwartete Verhalten allerdings nicht jedes Mal vormachen, um jemanden zu einer entsprechenden Handlung zu bewegen. Die dafür notwendige Zeit wäre schlicht nicht vorhanden. Für die Verständigung zu den täglichen Anforderungen und Notwendigkeiten braucht man Signale, die ein bestimmtes Verhalten einfordern. Diese Signale muss man kennen, also irgendwann erlernt haben, damit sie abgerufen werden können. Einen Hund kann man zum Beispiel trainieren, dass er Befehle in Form von Lautfolgen oder Gesten erkennt und das erwartete Verhalten abliefert. Das ist möglich, weil die Fähigkeit, Zeichengebungen oder Laute mit einem bestimmten Verhalten zu verbinden, in der Natur des Hundes angelegt ist. Sie spielt offensichtlich auch bei der Kommunikation im Rudel eine Rolle.
Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben des einzelnen wuchs auch der Stellenwert der sozialen Beziehungen für die Beurteilung einer Situation. Die sozialen Beziehungen wurden neben der natürlichen Umwelt und dem eigenen Körper zur dritten Wirklichkeit, mit der man sich bei seinen Entscheidungen auseinandersetzen musste. Welch hohen Stellenwert die Gruppe für den einzelnen haben kann, lässt sich bei Menschenaffen sehr gut beobachten. Ähnliches gilt sicher auch für unsere Vorfahren, deren Entwicklung nicht nur durch die Fertigung von immer besseren Werkzeugen und eine beginnende Arbeitsteilung gekennzeichnet war, sondern auch durch die zunehmende Vielfalt, mit der sie untereinander kommunizierten. Parallel dazu wurden die sozialen Beziehungen in ihren Gemeinschaften vielschichtiger. Sie waren nun häufig von Sympathien oder Antipathien geprägt, so dass gleiche Ereignisse eine unterschiedliche Bewertung erfahren konnten, abhängig davon, wen sie betrafen. Das Missgeschick eines anderen konnte Mitgefühl auslösen, wenn dieser andere zu den Freunden zählte, oder Schadenfreude, wenn dies eher nicht der Fall war. Der Verlust eines Nahestehenden war ein schmerzliches Ereignis, der Tod eines Gegners wurde möglicherweise als Triumph empfunden.
Die sozialen Beziehungen nehmen auch auf die Gefühle, die mit der Reflexion eigener Entscheidungen verknüpft sind, Einfluss. Eine solche Reflexion kann beispielsweise Zufriedenheit oder Ärger, vielleicht auch Bedauern auslösen. Mit „Bedauern“ wird ein Gefühl bezeichnet, das aus einem Misserfolg resultiert und zur Infragestellung der vorausgegangenen Entscheidung führt. Damit kann es einen Lernprozess befördern. Falls die Handlung nicht nur kein Erfolg war, sondern sogar Nachteile brachte, dann kann es sein, dass es nicht bei dem Bedauern bleibt, sondern dass auch „Ärger“ entsteht. Das heißt, das Gefühl fällt stärker aus, so dass nicht nur die Entscheidung in Frage gestellt wird, sondern die Zweifel auch auf den Entscheider zurückfallen. Falls noch jemand anderes Einfluss auf die Entscheidung genommen hatte und so den Misserfolg mitbegründete, richtet sich der Ärger oder Zorn womöglich gegen diesen. Stellte sich eine eigene Entscheidung, die andere Mitglieder der Gruppe betraf, als falsch heraus, dann wird dies meist als peinlich empfunden. Diese Pein ist ein starkes Gefühl, weil mit einem solchen Fehler die eigene Stellung in der Gruppe untergraben werden kann. Noch gravierender ist es, wenn man die Versehrtheit oder den Tod eines anderen verursacht. Diese Schuld verlangt Sühne. Aus ihr kann ein Konflikt, der die gesamte Gruppe betrifft, erwachsen.
Mit der Herausbildung eines vielschichtigen Geflechts sozialer Beziehungen entstand auch die Möglichkeit, dass nicht der Stärkste oder Geschickteste zum Anführer wurde, sondern dass insgeheim geschmiedete Bündnisse die Macht eroberten. Die Intrige trat ins Leben. Eine ihrer Besonderheiten besteht darin, dass nicht Sympathie das Kriterium für die Auswahl der Bündnispartner ist, sondern ein Kalkül, das auf Machtzuwachs zielt. Macht sichert den Zugang zur besten Nahrung und sie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Verbreitung des eigenen Samens. Sie ist mit guten Gefühlen verbunden, weshalb jedes Mittel recht erscheint, ein solches Bündnis zu schmieden. Dazu werden schon mal Pläne der anderen ausspioniert, eigene Chancen übertrieben oder Rivalen verleumdet. Die wachsenden geistigen Fähigkeiten zielten also bereits bei unseren Vorfahren nicht immer auf Nutz und Frommen der Gemeinschaft. Immerhin, die machtgierigen Ränkeschmiede bildeten auch bei ihnen nur einen Teil der Gruppe, ein anderer versuchte Streit zu schlichten und ein friedliches Miteinander zu bewahren.
zuletzt geändert: 10.09.2019
Bild: green-tiger.de