Einige Worte zum Geleit

Hervorgehoben

Diese Veröffentlichung hat die Form eines Blogs. Das hängt damit zusammen, dass die Blog-Software WordPress auch für einen Laien hervorragend zu handhaben ist. Der Nachteil ist, dass die jeweils zuletzt entstandenen Artikel ganz vorn stehen. Da ich aber keine Nachrichten verfasse, sondern Artikel, die aufeinander aufbauen, entspricht diese Abfolge nicht dem eigentlichen Anliegen. Der geneigte Leser ist deshalb gehalten, sich am Inhaltverzeichnis zu orientieren. Das Inhaltsverzeichnis ist im Hauptmenü angelegt. Unter Inhalt sind die einzelnen Artikel in einer logischen Struktur angeordnet und jeweils mit einem Link versehen, was das Navigieren vereinfachen soll. Außerdem findet man im Hauptmenü die Seiten Home mit einigen Worten zum Anliegen dieser Arbeit sowie das Impressum mit meinen Kontaktdaten. Mein Buch zum Thema wird unter dem gleichlautenden Link im Hauptmenü vorgestellt.

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 zuletzt geändert: 07.03.2022

Das Ende beginnt am Anfang oder ist es umgekehrt?

Aus irgendeinem Grund fällt mir an dieser Stelle der Spruch ein – alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Je nach Betrachtungsweise kann nämlich jedes der beiden äußeren Stücke sowohl Anfang als auch Ende sein. Eine durchaus dialektische Wurst.

Doch bevor wir uns mit Anfang und Ende befassen, bleiben wir noch einen Moment beim Gleichgewicht der Kräfte. Das Gleichgewicht der wirkenden Kräfte ist Voraussetzung für die dauerhafte Existenz der Strukturen. Die den Strukturen innewohnende Dynamik ist wiederum Ursache für Veränderungen, mit denen auch das Gleichgewicht der Kräfte immer wieder in Frage gestellt wird. Da jede Struktur Bestandteil einer übergeordneten Struktur ist, kann die Veränderung einer Struktur auch Auswirkungen auf die übergeordnete Struktur haben. Natürlich haben auch Veränderungen der übergeordneten Struktur Folgen für die Existenz ihrer Bestandteile. Wenn unsere Sonne eines Tages erlischt, spätestens dann ist auch für die Erde Schicht im Schacht. Unsere Galaxis oder gar das Universum als Ganzes wird davon jedoch kaum berührt werden. Unser Sonnensystem ist eine viel zu kleine Nummer, um im Universum Wellen zu schlagen. Allenfalls ginge ein leichtes Zittern durch den Raum, da sich mit unserem Sonnensystem ein Bestandteil seines Kräfte- und Wirkungsgefüges verabschieden würde, so dass eine Anpassungsreaktion erforderlich wird.

In den riesigen Weiten des Universums vollziehen sich Veränderungen in Struktur oder Bewegung einzelner Teilsysteme praktisch permanent. Daher geht ein ständiges „Zittern“ als Ausdruck der mit ihnen verbundenen Anpassungsprozesse durch dessen Weiten. Dieses Zittern ist, nicht zuletzt wegen der großen Entfernungen, die hier eine Rolle spielen, auf der Erde nur sehr schwach wahrnehmbar, so dass mit heutigen Mitteln eine differenzierende Messung kaum möglich ist. Falls sich jedoch große Veränderungen vollziehen, dann fällt dieses „Zittern“ stärker aus, so dass es unter Umständen gemessen werden kann. Jedenfalls ist über die Messung derartiger Anpassungsprozesse berichtet worden. Der dafür verwendete Begriff der Gravitationswellen ist jedoch problematisch, denn er impliziert eine Ursache, die durch den Doppelcharakter von Welle und Teilchen charakterisiert ist. Doch weder entsprechende Teilchen noch deren Schwingungen, die ja den Wellencharakter begründen müssten, sind nachgewiesen. Fakt ist hingegen, dass Veränderungen im Wirkungsgefüge des Universums gemessen wurden, die aus Veränderungen seiner Struktur resultieren. In den gemessenen Beispielen waren diese Ereignisse eine Fusion von Neutronensternen beziehungsweise eine Vereinigung zweier schwarzer Löcher. Aber nicht nur die Konzentration von Massen sondern auch der umgekehrte Fall, also die Auflösung einer starken Massenkonzentration, sollte einen Anpassungseffekt verursachen, den wir vielleicht irgendwann messen können. Mit der Registrierung dieser Anpassungsprozesse erhalten wir gleichzeitig Nachricht über Veränderungen im Universum.

Eine andere Quelle für Informationen über das Universum ist die Flut der bei uns eintreffenden Photonen und anderer Energiepartikel. Sie wurden irgendwann und irgendwo auf den Weg gebracht und künden nun von ihrem Schicksal. Ohne diese Partikel, die uns permanent erreichen, wüssten wir sehr wenig von dem, was „da draußen“ ist. Dabei sind sie äußerst uneigennützig, denn, treffen sie auf eine Struktur, dann bringen sie nicht nur Informationen mit, sie gehen selbst in dieser neuen Struktur auf. Ihre möglicherweise schon Jahrmillionen andauernde Reise wird abrupt beendet. Dabei kann ihre Reise durchaus abenteuerlich gewesen sein, denn im Weltall lauern überall Gefahren. Es sind zum Beispiel Unmengen von Hindernissen im Weg, die ihnen bei einem Zusammentreffen die Existenz kosten würden. Außerdem lauern da noch „Löcher“, die alles, was in ihren Einzugsbereich gerät, unweigerlich in ihrem schwarzen Schlund verschwinden lassen. Manchmal können die Photonen einer sich abzeichnenden Kollision, zum Beispiel mit einem Stern, jedoch entgehen. Ein Stern, der mit sich und seinen Kräften im Reinen ist und vielleicht sogar Photonen freigebig verschleudert, saugt fremde Photonen nicht in sich hinein. Wenn diese allerdings direkt auf ihn zurasen, dann gibt es auch hier kein Entrinnen, ihre Energie wird absorbiert. Verläuft ihre Flugbahn jedoch in der Nähe des Sterns vorbei, dann kann es zwar trotzdem sein, dass sie in die Reichweite seiner Kräfte eintauchen, sie können aber dank ihrer eigenen Energie und mit Hilfe der vom Stern ausgehenden Fliehkräfte womöglich seiner Schwerkraft entkommen. Nur ihr Flug wird abgelenkt, ihre Flugbahn erhält eine Delle.

Was würde eigentlich passieren, wenn ein rotierendes Zentralgestirn zusätzliche Masse respektive Energie erhielte? Gemeint sind hier nicht die aufschlagenden Photonen, die im Verhältnis zur Masse respektive zur Energie des Sterns einfach zu unbedeutend sind, um größere Wirkungen zu erzielen. Etwas mehr darf es schon sein. Als Folge eines solchen Masse- und Energiezuwachses könnte die Gravitationskraft des Sterns wachsen. Damit er nach einem derartigen Ereignis wieder ins Gleichgewicht kommt, müsste der Stern Fahrt aufnehmen, schneller rotieren, und dem ganzen System auf diese Weise ein höheres Drehmoment verleihen. Aber, wo soll der Impuls dafür herkommen? Wird keine schnellere Rotation initiiert, behält das System jedoch einen Überschuss an Anziehungskraft, so dass womöglich ein schwarzer Moloch entsteht.

Falls die Masse des Sterns abnimmt, zum Beispiel weil er Energie verschwenderisch verteilt, dann muss das ganze System langsamer werden oder die überschüssigen Fliehkräfte werden es irgendwann sprengen. Könnten nicht auch die Trabanten näher an den Kern heranrücken? In einem solchen Fall würde sich das Drehmoment ebenfalls reduzieren. Die Frage wäre allerdings auch hier, wo der Impuls, der die Trabanten näher an den Kern heranrückt, herkommen soll. Trotzdem hat diese Überlegung einen interessanten Nebenaspekt. Nehmen wir einmal an, es wäre möglich, die Trabanten näher an den Mittelpunkt eines rotierenden Systems heranzuziehen, dann müsste das System, gleichbleibende Masse in diesem Fall vorausgesetzt, schneller rotieren, denn die Energie, die im Drehmoment steckt, kann schließlich nicht verloren gehen. Diesen Effekt machen sich Eiskunstläufer zunutze, wenn sie ihre zauberhaften Pirouetten auf das Eis drehen. Sie ziehen die Arme an den Körper und drehen sich schneller um die eigene Achse. Wenn sie die Arme wieder öffnen, werden sie langsamer und können den Lauf fortsetzen.

Was passiert eigentlich, wenn Strukturen ihr Gleichgewicht verlieren? Erst einmal nicht viel. Zeitweise Zustände von Ungleichgewicht sind ebenso selbstverständlich wie solche von Gleichgewicht. Die Betonung liegt auf „zeitweise“, was einschließt, dass das System in der Lage sein muss, ins Gleichgewicht zurückzufinden. Falls die Struktur jedoch einen kritischen Punkt überspringt, kann dies zum Kollaps führen. Die Struktur zerbirst, wenn die Kräfte dauerhaft dominieren, die sie auseinandertreiben, oder sie fällt in sich zusammen, wenn die Sogkräfte das Steuer ansichreißen. In letzterem Fall würde sie nun alles in sich hineinsaugen, was in ihre Nähe gerät. Auf der anderen Seite hatten wir schon gesehen, dass dem Universum offensichtlich ein Mittelpunkt fehlt, der in der Lage wäre, das Ganze zusammenzuhalten. Es bläht sich permanent auf, wobei Strukturen aufgelöst und Masse in Energie verwandelt wird. Das Verfeuern der Masse hat allerdings irgendwann ein Ende, nämlich dann, wenn es nichts mehr zu verfeuern gibt. Und dann?

Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir noch einmal auf den Zusammenhang von Struktur und Bewegung beziehungsweise von Masse und Energie sowie von den aus ihnen resultierenden Kräften zurückkommen. Geklärt hatten wir bereits, dass alle Kräfte aus Bewegungen, das heißt aus Energie erwachsen. Ohne diese Kräfte gäbe es wiederum keine Strukturen, das heißt keine Masse. Gleichzeitig kann freie Energie nur aus Masse entstehen, aus der teilweisen oder völligen Zerstörung von Strukturen. Das eine bedingt das andere. Wenn Kräfte aus Bewegungen innerhalb von Strukturen resultieren, dann heißt das auch, dass dort, wo Bewegungen ersterben, auch die wirkenden Kräfte schwächer werden müssen. Bei extrem niedrigen Temperaturen schwinden die Bewegungen, wodurch die Wirkung der in der Struktur vorhandenen Kräfte abnimmt. Der jeweilige Stoff zeigt in diesem Zustand völlig neue Eigenschaften, Supraleitfähigkeit zum Beispiel. Ähnliches gilt auch, wenn die von außen zugeführte Energie die strukturellen Zusammenhänge auflöst und Plasmazustände entstehen. Für beide Prozesse sind äußere Faktoren ursächlich. Innere Veränderungen können jedoch ebenfalls das Vergehen der Kräfte zur Folge haben. Wenn zum Beispiel die Gravitation übermäßig stark wird, dann kann das dazu führen, dass die Räume innerhalb der Struktur soweit verengt werden, dass Bewegungen kaum mehr möglich sind. Mit den Bewegungen schwinden aber auch die Kräfte. Steht andererseits dem Expansionsdrang der Teile keine ausreichende Kraft entgegen, dann wird dieser irgendwann die Struktur sprengen. Mit der Struktur vergehen wiederum die sie konstituierenden Kräfte.

Und was hat das mit Anfang und Ende des Universums zu tun? Die Vorstellung eines Zustands unendlicher Dichte der Masse als Ausgangspunkt des Urknalls, macht keinen Sinn. Ein solcher Zustand müsste beinhalten, dass jegliche Bewegung erstorben und alle Strukturen zerquetscht waren. In einem solchen Fall wären jedoch auch die im Innern wirkenden Kräfte erloschen. Wo sollte dann die Dynamik des Urknalls hergekommen sein? Wahrscheinlich muss man es sich so vorstellen, dass dem Urknall ein Prozess der Konzentration von Masse vorausgegangen war, der tendenziell zu einem Schwinden der Strukturen und mit ihnen der Bewegungen führte. Dieses Schwinden wurde solange immer wieder hinausgezögert, solange neue Energie respektive Masse herangezogen und einverleibt werden konnte. Als nun ein derartiges Einverleiben von Masse und Energie nicht mehr möglich war, als nichts mehr da war, was einverleibt werden konnte, da wurde ein kritischer Punkt erreicht. Die schier unendlich groß gewordene Gravitationskraft begann zu verlöschen. In dieser extrem verdichteten Masse waren die Strukturen jedoch nicht gleichmäßig vernichtet worden. Hier und da war noch Bewegung möglich, gab es noch Energie, die zur Expansion drängte. Sie war bis dahin von der übermächtigen Gravitationskraft völlig paralysiert worden, bis, ja bis die Gravitationskraft erlosch. Des Korsetts entledigt, steigerte sich die Wirksamkeit der verbliebenen Energie und ihres Expansionsdrangs ins Unermessliche. Sie vermochte es, den Klumpen mit Urgewalt zu sprengen.

Eine neue vielfältige Struktur, ein Universum entstand. Dieses Universum, das aus einer unvorstellbaren Massekonzentration hervorgegangen war, hatte selbst keinen Massemittelpunkt, der es zusammenhalten konnte. Vom Urknall ausgelöst, begann es daher unablässig zu expandieren. Durch die Ausdehnung vergrößerten sich die Abstände der Strukturen voneinander, was wiederum die Wirksamkeit der Kräfte, die die Strukturen aneinander binden, verringerte, so dass sich die Expansion permanent beschleunigte. Die dafür erforderliche Energie wird durch eine Umwandlung beziehungsweise Auflösung von Strukturen freigesetzt. Dieser Prozess erreicht irgendwann ebenfalls einen kritischen Punkt, diesmal einen Punkt äußerst geringer Dichte an Masse. Das, was übrig bleiben wird, ist jedoch kein homogener Brei von ungebundener und damit mehr oder weniger kraftloser Energie. Es wird hier und da Reste von Strukturen geben, deren eigentliche Schwäche im Umfeld allgemeiner Kraftlosigkeit zu großer Stärke erwachsen kann. Jedenfalls werden Kristallisationspunkte entstehen, an denen sich Masse und Energie erneut konzentrieren. Irgendwann wird einer dieser Konzentrationspunkte alle Strukturen des zerfallenden Universums aufgesogen haben und nun selbst eine kritische Dichte erreichen. Voilá – ein neues Spiel kann beginnen.

zuletzt geändert: 22.06.2019

Noch mehr Gewichtiges

Was kann es nach Anfang und Ende des Universums noch Gewichtiges geben? Nichts! Trotzdem kann ich mir diesen Abschnitt nicht verkneifen, weil die mit ihm verbundene Entstehungsgeschichte irgendwie absonderlich war. Eines Nachts, die Beschäftigung mit den Problemen aus dem Reich der Physik lag schon einige Monate hinter mir, wachte ich auf, weil sich in meinem Kopf eine Frage zum Verhältnis von Masse und Gewicht ungestüm nach vorne drängte. Vergleichbares passiert mir höchst selten. Dass dieses nächtliche Ereignis noch dazu ein Thema betraf, das mich aktuell gar nicht beschäftigte, war nun vollends erstaunlich. Was sich da nach vorne drängte war im übrigen kein kruder Traum, sondern eine durchaus interessante Fragestellung, die mir bis dahin nicht aufgefallen war. Es war, als ob ein kleiner Quälgeist im Kopf sagen wollte, wach auf Alter, ich hab da so eine Idee, kümmere dich darum. Nach einer kurzen Zeit nächtlichen Grübelns bin ich erfreulicherweise wieder eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war, wie immer, wenig Zeit. Lediglich einige Notizen, damit ich die Frage nicht vergessen würde, konnte ich schnell zu Papier bringen. Die Arbeit, also der Broterwerb, rief unerbittlich. Dort angekommen, begrüsste man mich mit der Nachricht, dass alle Systeme ausgefallen seien und wir uns mit Weiterbildung oder so beschäftigen sollten. Oh Wunder, mit einem Mal war Zeit vorhanden, um aus den Erlebnissen der Nacht die Skizze für einen Artikel zu formen. Kaum war dies in aller Eile vollbracht, liefen auch die Systeme wieder an. Sollte dies ein Fußtritt des Schicksals gewesen sein? Bloß gut, dass ich nicht abergläubisch bin. Jedenfalls führte nun kein Weg mehr an der Fragestellung dieser Nacht vorbei.

Die Frage war, wieso die Dinge ein unterschiedliches Gewicht aufweisen. Wie jetzt, mag mancher denken, so eine Frage raubt dir den Nachtschlaf? Die Sache ist doch sonnenklar, denn die Dinge haben nun einmal eine unterschiedliche Masse und damit auch ein unterschiedliches Gewicht. Aber halt, so einfach ist das nicht, denn Gewicht ist keine Eigenschaft der Masse, wie die Besatzung jeder Raumstation zweifellos bestätigen wird. Im Weltall haben alle Massen gleichermaßen kein Gewicht. Gewicht wird den Dingen durch die Schwerkraft verliehen. Die Schwerkraft der Erde bewirkt ein Heranziehen aller Massen an den Planeten oder anders gesagt, sie verleiht ihnen einen Bewegungsimpuls in Richtung Erdmittelpunkt. Die Schwerkraft wirkt wiederum auf alle Massen gleich, was seinen Ausdruck in der gleichen Beschleunigung jeglicher Masse in ihrem Fall Richtung Erde findet. Wenn dieser Bewegung irgendwo ein Hindernis im Wege ist und sie sich nicht weiter realisieren kann, dann tritt diese nicht realisierbare Bewegung, mithin die Bewegungsenergie dieser Masse, als Kraft zutage. Wirkt diese Kraft auf eine Waage, dann können wir ihre Größe als Gewicht ablesen.

Nun wissen wir zwar, warum die Massen auf Erden Gewicht besitzen, aber warum ist dieses Gewicht für die einzelnen Massen unterschiedlich, wo doch die Schwerkraft auf alle Massen in gleicher Weise wirkt? Die Frage ist also doch etwas verzwickter. Fangen wir wieder bei den Atomen an, deren Hauptmasseträger die Protonen und die Neutronen sind. In den Stoffen oder Dingen sind unterschiedlich viele Protonen und Neutronen versammelt, was ihre unterschiedliche Masse begründet. Allerdings haben auch Protonen und Neutronen von sich aus kein Gewicht, wie ihr Dasein im Weltraum beweist. Im Weltraum unterscheidet man die Massen mittels der Energiemenge, die erforderlich ist, um ihnen eine bestimmte Beschleunigung zu erteilen. Die Massen nehmen den Energieimpuls auf und setzen ihn in ihrer Bewegung um. Je mehr Energie für die gleiche Beschleunigung erforderlich ist, desto größer ist die beschleunigte Masse. Das erreichte höhere Energieniveau bleibt wiederum solange erhalten, bis eine andere Masse respektive ein anderer Energieimpuls diesen Zustand ändert. Physiker bezeichnen dieses Phänomen als Trägheit. Gemeint ist, dass die Energie in Form einer Bewegung erhalten bleibt, solange dem keine von außen kommenden Einflüsse entgegenwirken. Die „Trägheit“ ist hier also Ausdruck des Energieerhaltungssatzes.

Im Weltraum gilt demnach, je mehr Masse eine Struktur besitzt, desto mehr Energie ist erforderlich, um die Struktur in ihrer Gesamtheit in einem bestimmten Maße zu beschleunigen und so ein höheres eigenes Energieniveau zu erreichen. Gleiches muss vom Prinzip her auch auf Erden gelten. Die hier wirkende Gravitationskraft gibt allen Strukturen einen Impuls zur Bewegung in Richtung Erdmitte. Diese auf die Strukturen wirkende Energie ist für alle gleich. Je mehr Masse, je mehr Protonen und Neutronen eine Struktur besitzt, desto größer ist die Energie, die diese Struktur aufnimmt, um in gleicher Weise wie alle anderen beschleunigt zu werden. Falls sich diese Energie wegen eines Hindernisses nicht realisieren kann, tritt sie wiederum als Kraft, als unterschiedlich große Kraft, mithin als unterschiedlich großes Gewicht in Erscheinung. Der Unterschied zu den beschleunigten Massen im Weltraum besteht eigentlich nur darin, dass auf Erden alle Strukturen zu jeder Zeit und in gleichem Maße einem Energieimpuls in Form der Gravitationskraft ausgesetzt sind und deshalb keine zusätzliche Energie aufgewandt werden muss, um die Unterschiede in den Massen zu bestimmen.

Es gibt aber noch einen anderen Unterschied. Auf der Erde hat jede Masse ein Gewicht, das bestimmt werden kann. Im Weltraum ist eine Bestimmung der Masse nur möglich, wenn der zum Einsatz kommende Energieimpuls groß genug ist, um die Trägheit der jeweiligen Masse zu überwinden, mithin sie in Bewegung zu setzen. Wodurch wird diese „Trägheit“ verursacht und wieso spielt sie in dieser Form auf Erden keine Rolle? Jede Struktur besitzt ein relatives Gleichgewicht der Kräfte, das ihr eine gewisse Stabilität verleiht. Dieses Gleichgewicht ist nichts Starres, vielmehr sind Veränderungen, zum Beispiel durch von außen kommende Energie, möglich. Eine Struktur kann solche Energie bis zu einem gewissen Grad ertragen beziehungsweise in sich aufnehmen. Wird die ankommende Energie so groß, dass sie die Struktur zu sprengen droht, dann muss diese die überschüssige Energie schnellstens nach außen ableiten oder in eine Bewegung umsetzen. Die im Weltraum zu beobachtende „Trägheit“ ist also Ausdruck der Fähigkeit der Strukturen von außen kommende Energie bis zu einem gewissen Grad zu integrieren. Diese Fähigkeit ist bei größeren Strukturen mit einer höheren Zahl an atomaren Bestandteilen naturgemäss größer. Auf der Erde spielt diese Form der Trägheit keine Rolle, da die Gravitationskraft der Erde einen Energieimpuls generiert, der in jedem Fall die Toleranzgrenze der Strukturen übersteigt und sie in Bewegung setzt.

zuletzt geändert: 30.06.2019

Maschinen prägen das Leben

Jahrtausende lebten die Menschen als Jäger und Sammler beziehungsweise als Ackerbauern und Viehzüchter, also von und mit der Natur. Und dann, in einem Zeitraum von nicht einmal hundert Jahren wurde alles anders. Maschinen dominierten jetzt den  Alltag, der meist in den Städten stattfand. Dort hatten sich die Menschen bereits ein gutes Stück von ihren natürlichen Lebensgrundlagen entfernt. Gleichzeitig beschleunigte sich ihr Lebensrythmus, denn sowohl in der Produktion als auch beim Transport von Gütern und Personen gaben nun Maschinen ein bis dahin ungekanntes Tempo vor. Mit dem Einzug der Technik veränderten sich auch die Beziehungen der Menschen zueinander. Rechte und Pflichten, Reichtum und Macht wurden grundlegend umverteilt. Man vermag sich kaum vorzustellen, wie die Menschen diesen Umbruch erlebten. Ihr tradiertes Weltbild, ihre Vorstellungen vom Leben, ihre Werte und das, was sie als gesichertes Wissen verstanden, alles geriet in der Zeitspanne eines Lebens unter die Räder. Für die einen mag diese Entwicklung gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes gewesen sein, für die anderen wurde Fortschritt zum verheißungsvollen Mantra. Die meisten hatten allerdings genug damit zu tun, irgendwie zu überleben.

Meine Uroma, 1882 geboren, lebte als junge Frau alleinstehend mit einem Kind in einer märkischen Kleinstadt. Sie zog mit einem Handwagen über die Dörfer und verkaufte frisch gepresstes Leinöl, um so den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind zu verdienen. Ihre Wohnung bestand aus einem kleinen Zimmer und einer noch kleineren Küche, in der auf einem mit Holz befeuerten Ofen gekocht wurde. Wasser musste sie von der Pumpe auf der Straße holen, während sich das Plumsklo auf dem Hof befand. Wenn es dunkelte, konnte sie im Kerzenschein noch ein wenig hantieren, aber letztlich bestimmte das Tageslicht ihren Lebensrythmus. Als sie 1968 starb, war elektrische Beleuchtung in den Wohnungen und auf den Straßen längst selbstverständlich. Jetzt verunsicherten nicht nur dunkle Gestalten sondern auch Automobile die Straßen. Man hatte die Wohnungen an das städtische Wassernetz angeschlossen, so dass Badezimmer und Klosett Alltag geworden waren. Zum Kochen stand ein Gasherd bereit. Außerdem machten ihr Staubsauger, Waschmaschine und elektrische Küchengeräte das Leben leichter. Zu all diesen Geräten gesellten sich noch Radio, Fernseher und Telefon. Mehrmals am Tag klirrten die Scheiben, weil ein Düsenjet die Schallmauer durchbrach. Und als Krönung des Ganzen waren Menschen in eine Erdumlaufbahn geschossen worden. Das war aber nur die eine Seite. Mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Faschismus und dem Sozialismus hatte sie vier politische Systeme er- und zwei Weltkriege überlebt. Die Inflation nach dem ersten großen Krieg fraß ihre mühsam gesparten Notgroschen, die folgende Weltwirtschaftskrise verschlimmerte die Lage weiter und die ständig wechselnden Regierungen waren auch nicht dazu angetan, Hoffnungen keimen zu lassen. Dann eroberte ein schnauzbärtiger Heilsverkünder die politische Bühne. Er versprach Ordnung, technischen Fortschritt und Arbeit für alle. Was er außerdem im Gepäck hatte, waren Verfolgungen, Massenmord und ein Krieg, der noch grausiger werden sollte, als der vorangegangene. Dem Krieg folgten Hunger, Ströme von Flüchtlingen und die Teilung des Landes. Blickt man auf die Stürme dieses Lebens zurück, dann erscheinen heutige Veränderungen einem lauen Lüftchen gleich.

Die erster Vorboten der großen Veränderungen waren aus England gekommen. Dort hatte man früh die Weichen in Richtung Förderung von Handwerk und Gewerbe gestellt, was besonders der Textilbranche zugute gekommen war. Feines englisches Tuch wurde zu einem Exportschlager. Es konnte gar nicht genug Schafswolle produziert werden, um die wachsende Nachfrage nach edlem Tuch zu befriedigen. Baumwolle, die aus den Kolonien ins Land kam, sollte Abhilfe schaffen und neue Käuferkreise erschließen. Doch schon bald zeigte sich, dass die Produktivität der Spinnerinnen, die die Baumwolle zu Garn verarbeiteten, zu gering war, um die schnell wachsende Nachfrage zu bedienen. Sollte es nicht möglich sein, Kräfte der Natur einzusetzen, um die Spinnerinnen zu unterstützen oder sogar ganz zu ersetzen? Schließlich hatte man die Kraft des Wassers und des Windes schon früher, wenn auch für andere Zwecke, eingesetzt. Da der Spinnprozess kontinuierlich ablaufen muss, blieb in diesem Fall allerdings nur die Wasserkraft als erfolgversprechende Option. Sie wurde dann auch in einer ersten Spinnfabrik, die 1770 ihre Produktion aufnahm, als Antriebskraft genutzt. Menschen wurden in dieser Fabrik nur noch für Hilfs- und Kontrollaufgaben benötigt. Zwanzig Jahre später gab es bereits 200 derartiger Fabriken, deren Produktivität rund 30 mal höher war als die der Spinnerinen.

Wasserkraft ist ortsgebunden und nicht überall verfügbar. Ihrem Einsatz als Antriebskraft waren daher enge Grenzen gesetzt. Energie wird aber nicht nur durch Wasser und Wind erzeugt, auch bei Verbrennungsprozessen wird Energie in Form erhitzter Gase frei. Verbrennungsprozesse haben zudem den Vorteil, dass sie im Prinzip überall ablaufen können. Sie waren also sowohl stationär, an jedem beliebigen Ort, als auch zum Antrieb von mobilen Maschinen einsetzbar. James Watt verhalf diesem Prinzip zum Durchbruch. Seine Dampfmaschinen kamen ab 1777 auf den Markt, die ersten Lokomotiven wurden ab 1804 verkauft. Zwischendurch hatten sich in Folge der französischen Revolution sowohl in Europa als auch in Nordamerika weitreichende gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Mit ihnen wurden Kräfte freigesetzt, die dem Fortschritt weiteren Schwung verliehen. Letztlich war es wieder das Eisen, dessen massenhafte Verarbeitung zu hochwertigem Stahl ab 1855 eine neue Etappe der Entwicklung einläutete. Aus Stahl gefertigte Maschinen dominierten bald die Produktion in den Fabriken wie auch den Transport zu Wasser und zu Lande.

Industriebetriebe entstanden vor allem in den Städten, denn dort fanden sich die erforderlichen Arbeitskräfte. Mitunter wuchsen auch neue Städte in der Nähe von Industrieanlagen, die sich bei wichtigen Rohstoffverkommen angesiedelt hatten. Der Hunger der Fabriken und Zechen nach freien Lohnarbeitern konnte jedoch nur gestillt werden, weil die Landwirtschaft durch wachsende Erträge die Ernährung einer zunehmenden Zahl von Menschen gewährleistete. Diese suchten ihr Auskommen vor allem in den Städten, die rasant wuchsen, so dass zum Ende des 19. Jahrhunderts die Landbevölkerung erstmals zur Minderheit wurde. Der Pulsschlag des gesellschaftlichen Lebens hatte sich endgültig in die Städte verlagert. Dort spielte die Musik, aber nicht für alle, denn die Menschen waren zu austauschbaren Anhängsel der Maschinen geworden, zu einem Kostenfaktor, der möglichst gering zu halten war. Bei Verschleiß stand eine Armee von Nachrückern bereit. Kinder waren besonders beliebt, da sie sich als Diener der Maschinen behende, fügsam und kostengünstig erwiesen. Das Licht des technischen Fortschritts offenbarte bedrückende Schatten. Doch es formierte sich Widerstand. Sozial motivierte Kämpfe entbrannten, erst spontan, dann zunehmend organisiert. Parteien, die den Kampf für die Rechte der Arbeiter und ihrer Familien auf ihre Fahnen schrieben, gewannen großen Zulauf.

Manche Städte wuchsen so rasant, dass ihre Infrastruktur völlig neu konzipiert werden musste. Auf Wohngebiete der ärmeren Bevölkerung wurde dabei kaum Rücksicht genommen, zumal der Wert der innerstädtischen Grundstücke unaufhaltsam stieg. Nicht nur die Preise der Grundstücke, auch die Häuser selbst schossen in die Höhe. Mit Fahrstühlen ausgestattete Wolkenkratzer waren der letzte Schrei. Die Bahn wurde dagegen schon mal in den Untergrund verlegt, um Platz zu sparen. Außerdem kam Licht in das Dunkel. Man hatte schon länger mit Elektrizität experimentiert und 1799 eine erste Batterie vorgestellt, nun, hundert Jahre später, war es soweit, dass Häuser und Straßen mit elektrischem Strom illuminiert werden konnten. Erst wenige, dann immer mehr, bis Elektrizität überall das Leben heller werden ließ. Schritt für Schritt erreichten die Segnungen der Industrialisierung breitere Kreise der Bevölkerung, viel zu langsam für die, die darauf warteten, im Rückblick gesehen jedoch in einem geradezu atemberaubenden Tempo.

Die Industrieproduktion war zur treibenden Kraft des Wirtschaftslebens geworden. Unternehmer, lange Zeit als Neureiche belächelt, bildeten die neue Oberschicht, die nach immer mehr Einfluss gierte, nicht zuletzt, weil sich ein bis dahin ungekanntes Problem aufgetan hatte. Durch den Einsatz der Maschinen war die Produktion nämlich zunehmend planbar geworden, das heißt, man konnte sie beinahe beliebig ausdehnen. Dem stand entgegen, dass die Märkte, die die Rohstoffe und Vorprodukte bereitstellen mussten und die die Endprodukte aufnehmen sollten, unberechenbar blieben. Wollte man eine den Maschinen gerecht werdende hohe Kontinuität der Produktion erreichen, mussten ganze Fertigungsketten in einer Hand vereinigt und Konkurrenten weitgehend ausgeschaltet werden. Nur ein monopolisierter Markt würde steuerbar sein. Für die Erreichung dieses Ziels schien jedes Mittel recht, jedenfalls war das die Überzeugung einiger Magnaten in den USA, deren Treiben auch dadurch begünstigt wurde, dass Grenzen setzende Regeln fehlten. Erst verheerende Krisen verhalfen zur Einsicht, dass ungezügelte Profitgier nicht automatisch gesellschaftlichen Wohlstand hervorbringt.

Das Entstehen von Wirtschaftsgiganten war aber nicht nur den Fortschritten in der Produktion und den Visionen einzelner Unternehmer zu danken. Für die Führung großer und territorial verzweigter Unternehmen brauchte man auch neuartige Möglichkeiten zur Kommunikation. Sie mussten einen schnellen Austausch von Informationen über weite Entfernungen hinweg gestatten. Der Telegraph und später das Telefon eröffneten diese Möglichkeiten. Sie gaben nicht nur der Industrie neue Perspektiven, sie schufen auch die Voraussetzung für die Beherrschung komplexer Infrastruktursysteme. Das Management eines Eisenbahnnetzes wäre ohne die technische Signalübertragung nicht denkbar. Die schnelle Übermittlung der Informationen führte aber auch auf ganz anderen Gebieten zu neuen Entwicklungen. Sie machte zum Beispiel eine zentrale Steuerung großer und schnell operierender Armeen möglich. Allerdings wurden nicht nur die Armeeführungen umgehend über aktuelle Veränderungen informiert, auch der Öffentlichkeit konnten nun Nachrichten über die tatsächliche Lage an den Fronten zugänglich gemacht werden. Zeitungen und andere Medien etablierten sich als vierte Gewalt im Ringen um politische Weichenstellungen.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog sich noch eine weitere Veränderung, deren Tragweite erst nach und nach in vollem Umfang erkennbar wurde. Der Austausch von Waren war bis dahin Produkt gegen Produkt beziehungsweise mit Hilfe einer als Äquivalent akzeptierten Geldware abgewickelt worden. Als solche Geldwaren hatten sich im Laufe der Zeit vor allem Edelmetalle, wie Gold und Silber, etabliert, denn sie konzentrieren einen hohen Wert in einem geringen Volumen, sind beliebig teilbar und als Material sehr beständig. Ihr Nachteil, dass sie nur begrenzt zur Verfügung stehen und ihr sicherer Transport einen relativ hohen Aufwand verursacht. Dieses Problem war allerdings nicht neu, es begleitete den Handel von jeher. Im Laufe der Zeit hatten sich daher verschiedene Wege zur einfacheren Abwicklung von Geschäften herausgebildet. Man konnte zum Beispiel Forderungen und Verbindlichkeiten von Klienten buchseitig verrechnen, ohne dass Geldware bewegt werden musste. Es war auch möglich, einen Schuldtitel gegen das eigene Vermögen oder gegen Guthaben bei Dritten auszustellen und diesen zur Bezahlung einzusetzen. Voraussetzung für derartige Transaktionen war, dass sowohl der verrechnenden Stelle als auch dem Schuldner Vertrauen entgegengebracht wurde, denn man verzichtete ja für den Moment auf die Begleichung einer Forderung, um sie zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht auch an einem anderen Ort, geltend zu machen. Solches Vertrauen genossen vor allem Banken, die die Abwicklung von Geldgeschäften zu ihrem Metier gemacht hatten.

Schuldscheine, die auch als Zahlungsmittel eingesetzt wurden, waren anfangs individuell, auf einen konkreten Schuldner bezogen. Später ging man dazu über, universelle, das heißt vom Staat autorisierte, Scheine in Umlauf zu bringen. Diese Papiere galten als Stellvertreter der Geldware, denn der Staat beziehungsweise eine Zentralbank garantierten, dass man bei Vorlage ihren Gegenwert in Gold erhielt. Das Versprechen, derartige Scheine jederzeit in Gold eintauschen zu können, wurde in Zeiten der sich ausweitenden Massenproduktion und des massenhaften Austausches von Gütern allerdings zu einer Gefahr, denn zwangsläufig lief bald mehr Papiergeld um, als Goldreserven vorhanden waren. Sollten die Verkäufer durch irgendwelche Ereignisse verunsichert werden, das heißt, ihr Vertrauen in die Stabilität der Märkte verlieren, würden sie ihre Forderungen sofort fällig stellen und das versprochene Gold einfordern. In einem solchen Fall würden die Banken oder staatlichen Institutionen, die diese Schuldscheine herausgegeben hatten, nicht in der Lage sein, ihr Versprechen einzulösen. Eine solche Situation konnte zum Kollaps der Märkte und letztlich ganzer Volkswirtschaften, mit unübersehbaren politischen Folgen, führen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, musste man die Garantie der Eintauschbarkeit der Geldscheine gegen Gold aufgeben. Die Geldscheine waren damit nicht mehr Repräsentant einer Geldware, sondern nur noch bedrucktes Papier. Das mit ihnen verbundene Versprechen beschränkte sich darauf, dass die Gesellschaft die Forderungen, die mit diesem Geld dokumentiert wurden, jederzeit für die Bezahlung von Verbindlichkeiten, die aus dem Erwerb beliebiger Waren und Dienstleistungen resultierten, akzeptieren würde. Insofern wurde jeder, der Papiergeld als Zahlungsmittel annahm, zum Kreditgeber, im Vertrauen darauf, diesen Kredit jederzeit in die von ihm benötigten Waren und Dienstleistungen verwandeln zu können. Dass solches Vertrauen auch missbraucht werden kann, zum Beispiel indem deutlich mehr Papiergeld in Umlauf gebracht wird, als Waren und Dienstleistungen verfügbar sind, wurde zur bitteren Erfahrung jener Menschen, denen die Hydra einer galoppierenden Inflation die Ersparnisse raubte.

Die Industrieproduktion war zur Basis moderner Gesellschaften geworden. Sie wurde auch zur Grundlage von Macht und Einfluss der Staaten im Weltgeschehen. Deshalb war es bald ein vorrangiges Anliegen der Regierungen, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Eine der wichtigsten Aufgaben in diesem Zusammenhang war die Schaffung einer zeitgemäßen Infrastruktur, denn der Ausbau der Transportwege für Güter, Personen und Informationen gewann sowohl für die Entwicklung der Wirtschaft als auch für die Versorgung der Städte und Armeen außerordentliche Bedeutung. Die sozialen Folgen der Industrialisierung wurden ebenfalls zur Herausforderung, denn wiederkehrende Unruhen hatten gezeigt, dass ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich notwendig ist, um eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Da den Unternehmern der eigene kurzfristige Profit wichtiger war, als der Blick auf die Entwicklung des Gemeinwohls, musste der Staat regulierend eingreifen. Die schweren Wirtschaftskrisen hatten zudem deutlich gemacht, dass den Unternehmen auch ökonomische Rahmenbedingungen vorgegeben werden mussten, um ihre Initiative in volkswirtschaftlich verträgliche Bahnen zu lenken. Das Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsgeschehen berührte jedoch die Interessen der Unternehmer, die vehement eine enge Abstimmung einforderten. Die sich entwickelnde enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft beschwor allerdings die Gefahr herauf, dass die Interessen weniger über Gemeinwohl gestellt wurden.

Im gleichen, atemberaubenden Tempo, in dem die Industrialisierung voranschritt, veränderten sich auch die Gewichte der Staaten im globalen Machtgefüge. In der vorangegangenen Epoche hatten die Europäer, vor allem Spanien, Portugal, England und Frankreich, die Welt unter sich aufgeteilt, wobei Großbritannien schlussendlich der größte Brocken zugefallen war. Die Dynamik des Maschinenzeitalters ließ jedoch tausendjährige Reiche nicht mehr zu. Neue Spieler, wie Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, warfen schon bald ihre wachsende wirtschaftliche Potenz in die Waagschale, um im Kampf um Rofstoffe und Märkte bessere Bedingungen zu erlangen. Die internationalen Beziehungen waren auf derart dynamische Veränderungen nicht vorbereitet. Sie verharrten in einer Zeit, da der Hochadel staatliche Bündnisse ausgehandelt und durch familiäre Bande untermauert hatte. Dessen oft von Eitelkeiten gelenkte Politik gepaart mit dem Expansionsstreben des Großkapitals führte Europa schließlich in einen Krieg, der am Ende ein Weltkrieg war und Millionen Menschen das Leben kostete. Da der Krieg auch im Stile der vergangenen Epoche, mit Demütigungen und willkürlichen Machtverschiebungen, beendet wurde, geriet er zur Keimzelle weiterer Katastrophen. Immerhin, es war die letzte Schlacht des Adels, der mit dem Ende des ersten Weltkriegs endgültig von den Schalthebeln der Macht entfernt wurde. Die neuen Herren, die Herren des Geldes, waren allerdings kaum besser, nur skrupelloser.

In Russland wollten einige Revolutionäre neben dem Adel auch gleich noch das Privateigentum abschaffen, was dazu führte, dass das Land zeitweise im Elend eines Bürgerkriegs versank. Sie errichteten einen streng zentralistischen Staat, dessen Aufgabe darin gesehen wurde, das Land zu modernisieren und ihre Revolution in die Welt zu tragen. Dabei wurde auch vor Gewalt nicht zurückgeschreckt. In Deutschland hatte es ebenfalls eine siegreiche Revolution gegeben, eine faschistische, die sich als nicht minder blutrünstig erwies. Ihr Streben nach Weltherrschaft sollte durch einen großen Vernichtungskrieg zum Ziel geführt werden, wobei der in Russland herrschende „jüdische Bolschewismus“ zum Hauptfeind erkoren war. Russen und Juden hatten dann auch den höchsten Blutzoll zu beklagen, bevor es den Völkern der damaligen Sowjetunion gelang, den deutschen Überfall abzuwehren und gemeinsam mit den Alliierten die faschistischen Armeen vernichtend zu schlagen.

Eine Lehre dieses Krieges war die Einsicht, dass nur eine enge Zusammenarbeit der Staaten und Völker den Frieden bewahren kann. Man schuf internationale Gremien für die Sicherheit der Staatengemeinschaft sowie zur Förderung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit. Gleichzeitig teilten die Siegermächte die Welt von neuem in Einflusssphären auf. Die in diesem Zusammenhang gezogenen Grenzen berücksichtigten die Interessen der dort lebenden Völker kaum, so dass wiederum ein beträchtliches Konfliktpotenzial angehäuft wurde. Darüber hinaus war den Großmächten bald jedes Mittel recht, um ihre Einflusssphären zu erhalten oder auszudehnen. Dazu wurden Kriege geführt, diktatorische Regimes unterstützt und Waffen in absurden Dimensionen angehäuft.

All die Katastrophen und Verwerfungen, die das 20. Jahrhundert prägten, haben den technischen Fortschritt nicht aufgehalten, im Gegenteil. Maschinen zogen immer stärker in das Leben der Menschen ein. Sie ersetzten ihre Arbeitskraft in der Industrie, in der Landwirtschaft und zunehmend auch im Dienstleistungsbereich, sie eroberten die Haushalte und sie veränderten die Kommunikation der Menschen untereinander. Trotz aller Hemmnisse vertiefte sich die Kooperation der Unternehmen über Ländergrenzen hinweg. Auf immer mehr Gebieten erwies sich internationale Zusammenarbeit als zwingend erforderlich, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Gleichzeitig verstärkten sich jedoch die Ungleichgewichte zwischen den Regionen und Ländern, zum einen weil sich die unterschiedlichen Startbedingungen ohne ausgleichende Hilfen potenziert fortschrieben, zum anderen, weil die reichen Länder ihre Machtstellung nutzten, um die Bedingungen des internationalen Handels zu ihrem eigenen Vorteil zu gestalten. Hinzu kam, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion das Denken in Einflusssphären nicht untergegangen war, höchstens in dem Sinne, dass sich die USA, respektive maßgebliche Teile der dortigen Oligarchie, darin bestätigt sahen, dass allein sie berufen seien, die Welt in ihrem Sinne zu ordnen. Die internationalen Organisationen, die gegründet worden waren, um Konflikte zu entschärfen, wurden dabei schnell hinderlich.

zuletzt geändert: 04.01.2020

Quellen

GEO Epoche Kollektion Nr. 7, Die Industrielle Revolution

GEO Epoche Nr.8, Das alte China

Quelle Bild: www.Lehrerfreund.de

 

Aufbruch in eine neue Zeit

Das römische Reich, genauer das weströmische Reich, war unter dem Ansturm germanischer Stämme untergegangen. Kaiser Konstantin hatte schon vorher im strategisch günstiger gelegenen Byzanz eine neue Hauptstadt errichten lassen. Außerdem forcierte er Reformen und er förderte das Christentum, das in der Folgezeit zur Staatsreligion aufstieg. Das aus dieser Entwicklung hervorgegangene oströmische Reich konnte dank einer starken Zentralmacht, einer effizienten Verwaltung und einem schwunghaften Fernhandel weitere eintausend Jahre bestehen. Byzanz reklamierte nicht nur die Kontinuität des römischen Reiches für sich, es wurde auch zum Bewahrer des wissenschaftlichen und kulturellen Erbes der griechisch-römischen Geschichte. Ohne diesen Hort an Kontinuität wäre der spätere Aufbruch Westeuropas in die vorderen Ränge des Weltentheaters kaum möglich gewesen, denn dort war vieles von diesem Erbe in Vergessenheit geraten. Trotzdem musste auch in Westeuropa das Rad nicht neu erfunden werden. Will heißen, dass man auch dort auf Errungenschaften vergangener Jahrhunderte aufbaute. Außerdem brachten Händler und andere Reisende immer wieder Ideen, Werkstoffe und Erzeugnisse aus fernen Ländern mit, die zur Quelle von Fortschritt wurden.

Im 11. Jahrhundert kam es zu folgenreichen Veränderungen im Ackerbau. Die Dreifelderwirtschaft setzte sich durch, der Holzpflug wurde vom Eisenpflug verdrängt und es wurde ein neuartiges Geschirr benutzt, das es ermöglichte, Pferde statt der bis dahin üblichen Ochsen für die Feldarbeit einzusetzen. Mit Hilfe dieser Neuerungen konnten höhere Erträge erzielt werden, die ein Bevölkerungswachstum ermöglichten. Trotz der Ertragssteigerungen blieb die Lage der Bauern jedoch prekär, denn sie waren in eine starke Abhängigkeit von ihren Grundherren geraten. So mussten sie Fronarbeit auf den Äckern und Anwesen der Herren leisten oder diesen einen großen Teil ihrer Ernte abtreten. Dass sich eiserne Flugscharen verbreiten konnten, war Fortschritten bei der Eisenverhüttung zu verdanken, die auch die Herstellung vieler anderer, neuer oder verbesserter Gebrauchsgegenstände ermöglichten. Dies führte zu einem sprunghaft steigenden Bedarf an Eisenerz. Kupfer und Silber, die auch als Zahlungsmittel eingesetzt wurden, waren ebenfalls in wachsendem Maße gefragt, so dass der Bergbau florierte und zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor wurde. Der Aufschwung, der mit der verbesserten Eisenverarbeitung und dem prosperierenden Bergbau ausging, kam besonders den Städten zugute, denn es entstanden neue Gewerke, die auch den Handel belebten. Die oft weitgereisten Händler brachten Produkte aus fernen Ländern mit – Gewürze aus Indien, Seide, Porzellan und Edelsteine aus China sowie wertvolle Stoffe aus Arabien. Diese Luxusgüter waren bei den Herrschaften bald heiß begehrt. Da nicht jeder von ihnen eine Erzmine sein eigen nannte, pressten sie die hörigen Bauern aus, um am Luxus teilhaben zu können. Den Bauern blieb oftmals kaum das Nötigste zum Überleben.

Mit dem Fernhandel kamen aber nicht nur Luxusgüter, auch Ideen und Erfindungen fanden ihren Weg nach Europa. Insbesondere dem Austausch mit China, das zu jener Zeit auf vielen Gebieten führend war, verdankte man so manche Inspiration, wie das Nutzen der Pferde als Zugtiere oder die Verwendung eines Kompasses zur Navigation auf See. Der Landweg nach China und Indien war jedoch nicht nur lang sondern auch gefährlich. Als Alternative bot sich der Seeweg durch das Mittelmeer an, bei dem man allerdings auf die Dienste von Byzanz angewiesen war. Andere Nutznießer des Seehandels waren italienische Städte, wie Pisa, Genua und Venedig, deren Kaufleute zu großem Wohlstand und politischem Einfluss gelangten. Für sie war es wichtig, direkt in Konstantinopel vertreten zu sein. Immer mehr italienische Kaufleute und Bankiers ließen sich dort nieder, so dass Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung nicht lange auf sich warten ließen. Und dann kamen auch noch die Kreuzfahrer, die auf ihrem Weg in das gelobte Land, Konstantinopel im Jahre 1204 eroberten und plünderten. Von den wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Heimsuchung sollte sich Byzanz nie wieder ganz erholen. Die zunehmend unsicher werdende Lage im oströmischen Reich veranlasste Gelehrte und Künstler, das Land zu verlassen und in den italienischen Handelsstädten ihr Glück zu suchen. Sie brachten nicht nur ihr eigenes Wissen sondern auch Texte aus der Antike sowie Erkenntnisse arabischer und indischer Gelehrter mit. Dieser Zustrom an Wissen befruchtete die geistige Entwicklung Westeuropas. Er löste auch eine Welle enthusiastischer Suche nach weiteren antiken Quellen aus. Die Beschäftigung mit der latainischen Sprache gehörte daraufhin bald wieder zum Rüstzeug von Künstlern und Wissenschaftlern.

Die Schiffe, die die Waren aus fernen Ländern brachten, hatten eines Tages auch eine andere, todbringende Fracht an Bord: die Pest. Der scharze Tod, die schlimmste Katastrophe seit Menschengedenken, raffte bereits in einer ersten großen Welle von 1347 bis 1351 rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin. Die Pest verschonte auch die Herren, weltliche wie geistliche, nicht. Sie waren eben auch nur Sterbliche. Aber, wenn diese Herrschaften nicht unantastbar waren, warum sollten es dann die sie begünstigenden Gesetze und Regeln sein, zumal sich diese in Zeiten der Not nicht bewährten? Veränderungen schienen nicht nur dringend, sondern auch möglich zu sein. Vor diesem Hintergrund lösten sich Künste und Wissenschaften einen Schritt weit von der bis dahin alles beherrschenden Kirche. So besannen sich die Mediziner darauf, nicht nur über altes Wissen zu dozieren, sondern die Natur des Menschen zu erforschen, um ihm besser helfen zu können. Nicht ein Leben nach dem Tode sondern das diesseitige Leben sollte wieder den Mittelpunkt des Denkens bilden.

Die schweren Jahre hatten auch gezeigt, dass eine effiziente Verwaltung in der Lage ist, Krisenzeiten zu managen, selbst dann, wenn der Herrscher versäumte, das Seinige zu tun. Es war also wichtig, die Verwaltungen zu stärken, damit sie zum Wohle der Gemeinschaft tätig würden. Gleichzeitig verschärfte die Pest jedoch die sozialen Konflikte. Ganze Landstriche waren verwaist, Familien und Dörfer stark dezimiert. Viele der Herren waren trotzdem nicht bereit, irgendwelche Abstriche an ihrem Lebensstil zuzulassen. Die verbliebenen Bauern sollten nun all die Lasten tragen, die vorher auf breiteren Schultern verteilt waren. Vielerorts wurde die Drangsal so unerträglich, dass die Bauern keinen anderen Ausweg sahen, als sich ihr durch Flucht in eine Stadt zu entziehen. Das war natürlich nicht im Sinne der Herren, schmälerte doch jede Flucht eines Bauern ihren Geldbeutel. Sie scheuten auch vor Gewalt nicht zurück, um die angespannte Lage in den Griff zu bekommen. Wo dies trotzdem nicht gelang, rief man die Staatsmacht zur Hilfe, die nun ihrerseits die Landflucht verbot. Die Bauern wurden damit vollends zu Sklaven ihrer Scholle respektive ihres Grundherrn gemacht. Für einige dieser Herren hatte die Pest aber auch einen positiven Effekt, denn sie konnten verwaiste Ländereien unter ihre Kontrolle bringen und damit ihren Besitz und ihre Macht vergrößern. Die Konflikte wurden dadurch allerdings nicht gelöst, eher im Gegenteil. Aufruhr und bewaffnete Auseinandersetzungen waren eine wiederkehrende Folge.

Die Pest hatte England besonders schwer getroffen, war ihr doch dort fast die Hälfte der Einwohner zum Opfer gefallen. Die Grundherren gingen deshalb dazu über, die Schafzucht zu forcieren, nicht zuletzt, weil man für die Weidewirtschaft nur wenige Bedienstete brauchte. Der Staat förderte den Ankauf und die Verarbeitung der Wolle. Außerdem ließ er Straßen, Wasserwege und Häfen ausbauen, damit das hergestellte Tuch schnell und kostengünstig exportiert werden konnte. Die aus dem Handel sprudelnden Zölle sollten bald zu seiner wichtigsten Einnahmequelle werden. Die guten Geschäfte führten allerdings auch dazu, dass die Landlords bestrebt waren, die noch verbliebene Landbevölkerung zu vertreiben und sich die Allmenden anzueignen, um mehr Platz für die Ausweitung der Weidewirtschaft zu erhalten. Insgesamt gesehen schufen die Reformen jedoch die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes.

Egal, welche konkreten Maßnahmen in den einzelnen Ländern ergriffen wurden, der Staat musste sich fortan stärker in die Regelung der sozialen Beziehungen einbringen. Für diese Aufgabe brauchte man die örtlichen Herrscher mit ihren Verwaltungen, denn diese kannten die spezifischen Gegebenheiten, die bei der Durchsetzung der Regeln zu berücksichtigen waren. Viele dieser Herren nutzten die Gelegenheit, um ihre eigene Stellung im Machtgefüge auszubauen. Aber nicht nur die regionalen Herrscher pochten zunehmend auf Souveränität, auch viele Städte, die durch den Handel zu Reichtum und Wohlstand gelangt waren, forderten mehr Eigenständigkeit. Unter diesen Bedingungen hatte es eine Zentralregierung schwer, ihren Machtanspruch durchzusetzen. Die aus dieser Gemengelage entstehenden Konflikte führten nicht selten zu kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen Reichtum und Macht schnell gewonnen aber auch wieder verloren werden konnten.

In diesen unruhigen Zeiten etablierten sich die italienischen Handelsstädte, allen voran Florenz, als Wiege des Fortschritts. Kaufleute und Bankiers konzentrierten dort große Reichtümer in ihren Händen, wobei ihnen Neuerungen, wie die doppelte Buchführung und die Einführung des Handelswechsels, zugute kamen. Sie verwendeten einen Teil ihres Vermögens darauf, imposante Bauwerke zu errichten, Künstler zu beschäftigen und die Wissenschaften zu fördern. Verbunden mit der Wiederbelebung antiken Wissens entstand ein Strom von Innovationen, der der gesellschaftlichen Entwicklung Schwung verlieh. Die Baukunst hatte beispielsweise bisher einzig auf den Erfahrungen der Baumeister basiert, die neuartige Aufgaben nur nach der Methode von Versuch und Irrtum angehen konnten. Mit den neuen Erkenntnissen war man nun in der Lage, statische Berechnungen vorzunehmen, die das Bauen planbar machten. Da auch die alte Kunst des Kuppelbaus wiederbelebt worden war, konnten beeindruckende Bauwerke entstehen. Die Maler wendeten sich der Zentralperspektive zu, um in ihren Bildern einen räumlichen Eindruck zu erzeugen und sie rückten immer öfter den Menschen mit seiner ganzen Körperlichkeit in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Das Leben wurde nach der geistigen Bevormundung im Mittelalter und der körperlichen Bedrohung durch die Pest in neuer Weise gefeiert. Es erlebte eine Renaissance.

Verlierer des durch die Pest beförderten Umbruchs war die katholische Kirche. Sie hatte in der Zeit davor das geistige Leben beinahe vollständig beherrscht. Diese Herrschaft wurde nun immer öfter als Bedrückung empfunden. Hinzu kam, dass die Kirchenfürsten, meist Söhne weltlicher Herren, es ihren Brüdern gleichtun wollten und deshalb ihr Streben mehr auf die Erweiterung der eigenen Machtfülle und die Entfaltung eines grösst möglichen Luxus als auf das Seelenheil der ihnen Anvertrauten richteten. Gleichzeitig hatten sich viele von ihnen in der Stunde der Bewährung, als der Schwarze Tod unablässig die Sense schwang, als nichtsnutzig erwiesen. Jedenfalls sahen das viele Menschen so. Einige von ihnen fanden sich zu Laiengruppen zusammen, die, unabhängig von der Kirche, nach neuen Wegen zu Gott suchten. Später begründeten Theologen, wie John Wyclif und Jan Hus, dass es für die christliche Kirche unabdingbar geworden sei, zu ihren spirituellen Wurzeln zurückzufinden. Und schließlich war es die Reformation, die den Einfluss der Papstkirche auch faktisch beschränkte.

In gewissem Sinn sind sowohl die Renaissance als auch die Reformation Teil des durch die Pest beschleunigten gesellschaftlichen Umbruchs jener Zeit. Sie haben in ihren Ursachen, aber auch in ihren langfristigen Wirkungen, manches gemeinsam. Trotzdem stehen sie sich in ihren Konsequenzen unversöhnlich gegenüber. Dieser Gegensatz wird im Wirken der Renaissance-Päpste in besonderem Maße deutlich. Diese Herren waren tatkräftige, dem Diesseits verschriebene Machtmenschen und gleichzeitig Förderer von Architektur, Kunst und Technik, zumindest, solange sie ihren Interessen dienten. Gleichzeitig waren sie Herrscher, die ihren Machtanspruch als Territorialfürst wie auch als Kirchenoberhaupt rigoros durchsetzten. Die Reformation war im Unterschied dazu von egalitären Gedanken getrieben. In den Überlegungen der Reformatoren hatten Prachtentfaltung und Machtzuwachs keinen Platz. Die Päpste erschienen ihnen daher als Inkarnation des Bösen. Der daraus erwachsende Dissens erwies sich als unüberbrückbar. Er führte letztlich zur Spaltung der Kirche und zu einer nicht enden wollenden Reihe von Verfolgung und Krieg.

Der Reformationsgedanke hätte wahrscheinlich nie eine so große Strahlkraft erreicht, wenn nicht die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern seine umfassende Verbreitung ermöglicht hätte. Mit dem Buchdruck konnte das jahrhundertealte Monopol der Kirche auf die Bewahrung, Verbreitung aber auch Unterdrückung von Wissen gebrochen werden. Überzeugungen, genauso wie Forschungsergebnisse, wurden nun schnell, unter Umgehung jeglicher Zensur, verbreitet. Dadurch war jeder, der des Lesens mächtig war, in der Lage, an den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit teilzuhaben. Als ideales Mittel, um neue Ideen unter die Massen zu bringen, erwiesen sich Flugblätter, ohne die auch die Überzeugungen Martin Luthers kaum derart rasante Verbreitung gefunden hätten. Die neuen Möglichkeiten der Publikation von Gedanken und Meinungen förderten auch die schnelle Verbreitung wissenschaftlicher Arbeiten, was zur umfassenden Revidierung des von der Kirche propagierten Weltbildes beitrug.

Nicht nur in Europa waren die Verhältnisse in Bewegung geraten. Auf der arabischen Seite des Mittelmeers war das Osmanische Reich entstanden, dessen Größe und Macht schnell wuchsen. 1453 gelang den Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels der Sprung nach Europa. Sie besetzten den Balkan und sorgten jahrhundertelang für Unruhe in europäischen Herrscherhäusern. Die Osmanen brachten aber nicht nur Krieg und Unterdrückung nach Europa sondern auch kulturelle Neuerungen, die das Leben bereicherten. Mit der osmanischen Eroberung der arabischen Welt und der Einnahme Konstantinopels wurden jedoch auch die Handelswege nach China und Indien blockiert. Wo sollten nun die Luxusgüter herkommen, an die man sich doch gewöhnt hatte? Vielleicht ließ sich ein direkter Seeweg in diese fernen Weltengegenden finden. Zwei Routen waren denkbar, zum einen die Umsegelung Afrikas, zum anderen der Weg nach Westen, um Indien über die Rückseite der Erdkugel zu erreichen. Die Erkundungen dieser Routen waren gewagte Unterfangen, die viele Gefahren bargen. Allerdings hatte es auch Entwicklungen gegeben, die diese Abenteuer aussichtsreich erscheinen ließen. Ein neuer, wendigerer und besser steuerbarer Schiffstyp stand zur Verfügung, der Kompass war deutlich genauer geworden und mit Hilfe des Jakobsstabs und astronomischer Tabellen konnte die Position eines Schiffes präzise berechnet werden. Bald waren auch tragbare mechanische Uhren verfügbar, die die Navigation vereinfachten. Außerdem hatten die Seefahrer mächtige Feuerwaffen an Bord, die ihnen ein Gefühl von Überlegenheit mit auf den Weg gaben.

Die Zukunft lag auf den Meeren, das hatten vor allem die Herrscher von Portugal und Spanien verstanden. Sie waren bereit, tollkühne Männer für derartige Abenteuer auszurüsten. Das damit verbundene Risiko wurde belohnt, denn Vasco da Gama fand einen Seeweg nach Indien um Afrika herum und Christoph Kolumbus gelang die Querung des Ozeans gen Westen. Allerdings sollte sich später herausstellen, dass er nicht in Indien gelandet war, sondern dass er einen bis dahin in den Karten nicht verzeichneten Kontinent gefunden hatte. Die Entdecker nahmen die Länder für ihre Herrscher in Besitz. Dass dort andere Völker lebten, war für sie nicht weiter von Belang. Durch Mord, Versklavung und eingeschleppte Krankheiten waren diese ohnehin bald ein schwindendes Problem. Im Windschatten der Pioniere trugen Missionare den christlichen Glauben in die Welt, so dass sich der Einfluss der katholischen Kirche, trotz der Rückschläge in Europa, ausweitete und der Grundstein für eine Weltkirche gelegt werden konnte. Allerdings waren auch viele der Missionare nicht mit Skrupeln belastet, wenn es galt, ihrer Sendung Erfolg zu verschaffen. Und dann fand man auch noch Gold, das die großen Entdeckungen vollends zu großen Raubzügen werden ließ.

Gold und Silber flossen tonnenweise nach Europa. Es waren Waren, die sich problemlos in alle anderen Waren eintauschen ließen. Insbesondere das Gold war ein gern gesehenes Zahlungsmittel, wurde es doch als Inkarnation von Reichtum verstanden. In Europa war es bis dahin ein eher rares und teures Gut gewesen. Sein massenhafter Zufluss wirkte daher wie eine Dopingkur für Handel und Gewerbe, zumal es nicht in den Schatzkammern der Herrscher verstauben, sondern sich in Macht und Luxus, das heißt in einen Strom von Gütern, verwandeln sollte. Die Aufwendungen für den Raub des Goldes waren zudem deutlich geringer als sein damaliger Wert, was zusätzlichen Profit versprach. Doch dabei blieb es nicht. Da immer mehr Gold nach Europa strömte, wurde der reale Aufwand für dessen Beschaffung bald zur Richtschnur seines Wertes. Das heißt, der Wert des Goldes, gemessen im Wert der Waren, die man mit ihm erwerben konnte, sank. Da auch der Zufluss an Gold und Silber irgendwann verebbte, erhielt die Euphorie, die die ersten Raubzüge ausgelöst hatten, bald einen Dämpfer. Man musste sich nun auf andere Reichtümer, die die neue Welt ebenfalls zu bieten hatte, besinnen. Es wurden Bodenschätze ausgebeutet und eine auf die Bedürfnisse Europas ausgerichtete Landwirtschaft entwickelt. Dort, wo Arbeitskräfte fehlten, auch weil die einheimische Bevölkerung nahezu völlig ausgerottet worden war, schaffte man Menschen aus anderen Weltengegenden heran. Menschenhandel, vor allem die Versklavung von Afrikanern, wurde zum einträglichen Geschäft.

Überseeische Territorien zu besitzen, war ein wichtiger Faktor für Macht und Ansehen europäischer Herrscher geworden. Es wurden Kriege um die Vorherrschaft auf den Meeren, um überseeische Territorien, aber auch um die Dominanz in Europa geführt. In diesen Auseinandersetzungen konnten sich nur Staaten behaupten, die über eine starke Zentralmacht verfügten. Die Zentralmacht war es auch, die am meisten von den Erfolgen einer expansiven Politik profitierte. Gleichzeitig gab die Eroberung von überseeischen Territorien der Entwicklung von Handel und Gewerbe starke Impulse. Nicht nur die Sklaven, buchstäblich alles wurde zur Ware. Die Profitmacherei rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt des Wirtschaftslebens. Der damit eingeleitete Paradigmenwechsel von der Selbstversorgungswirtschaft zur Warenwirtschaft spiegelte sich auch darin wider, dass vielerorts die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse der Bauern von ihren Grundherren durch wirtschaftliche Beziehungen ausdrückende Pachtverträge ersetzt wurden. Selbst der Staat war mehr und mehr von Einnahmen aus Handel und Gewerbe abhängig.

Neben einigen Herrschern waren auch Kaufleute, Bankiers und Gewerbetreibende reich geworden. Sie wollten nun mehr Einfluss auf die Geschicke der Gemeinwesen erhalten und vor allem die Bedingungen für ihre wirtschaftlichen Unternehmungen verbessern. Dem stand das Beharren des Adels auf angestammte Privilegien im Wege. Gar nicht zu reden von dessen Verschwendungssucht, die im krassen Gegensatz zur Not weiter Teile der Bevölkerung stand, die aber auch in den Augen vieler Intellektueller und Bürger als unnatürlich empfunden wurde. Der Widerspruch, der bereits im Verhältnis von Renaissance-Päpsten und Reformatoren aufgeschimmert war, fand im Konflikt zwischen den vererbbaren Privilegien des Adels und dem emanzipatorischen Streben der Bürger Fortsetzung und Zuspitzung. Die wachsenden Spannungen entluden sich schließlich in folgenschweren Beben. Ein solches Beben, die französische Revolution, zerstörte nicht nur dort die alte Ordnung, seine Ausläufer waren beinahe überall auf der Welt zu spüren. Die Revolution proklamierte die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz. Privilegien, die durch Geburt in eine bevorteilte Klasse begründet wurden, sollte es nicht mehr geben. Jeder würde selbst seines Glückes Schmied sein. Damit forderte die Revolution den massiven Widerstand aller um ihre Privilegien Bangenden heraus. Sie setzte aber auch ungeahnte Kräfte frei, die das alte Europa das Zittern lehrten.

Dann kamen aus England, mit seiner zu dieser Zeit am weitesten entwickelten Wirtschaft, ganz erstaunliche Nachrichten. Dort waren von Wasserkraft getriebene Baumwollspinnereien entstanden, bei denen fast der gesamte Produktionsprozess mechanisch, ohne das Eingreifen von Menschen, ablief. Das sollte aber nur der Anfang sein. Ein neues Zeitalter, das Zeitalter der Industrialisierung pochte an die Tür der Geschichte. Veränderungen gab es auch in der Landwirtschaft, denn man war von der Dreifelderwirtschaft zur Fruchtfolge übergegangen. Außerdem wurde vermehrt Dünger eingesetzt, so dass die Erträge deutlich stiegen. Die Familien waren in der Lage, mehr Mäuler zu stopfen und Kinder groß zu ziehen, von denen viele später in die Städte zogen, um dort, in der aufkommenden Industrie, ihr Auskommen zu finden. Trotzdem bildete die Landbevölkerung noch immer die größte soziale Gruppe, was sich erst mit der fortschreitenden Industrialisierung grundlegend änderte. Das heißt, vom Sesshaftwerden der Menschen bis zur Industrialisierung waren die Gesellschaften agrarisch geprägt, es waren mehrheitlich auf Selbstversorgung focussierte Bauerngesellschaften.

zuletzt geändert: 18.09.2019

Quellen:

  1. GEO Epoche Nr. 75, Die Pest
  2. GEO Epoche Kollektion Nr. 7, Die Industrielle Revolution

 

Bild: reference.com

Bauern

Die Jagd hatte für das Überleben der Homo sapiens eine entscheidende Rolle gespielt. Zum Ende der Eiszeit setzte jedoch ein Massensterben von Arten ein, darunter wichtiger Beutetiere der Menschen. Gleichzeitig wurde die Vegetation vielerorts üppiger. Da traf es sich gut, dass die Menschen bereits Erfahrungen mit der Zubereitung von Pflanzen für die Ernährung gesammelt hatten. Es wurden Körner zu Mehl gemahlen, um daraus Brot zu backen, das über eine längere Zeit genießbar blieb. Man hatte gelernt, Gefäße, wie Schalen und Töpfe, aus Keramik herzustellen, in denen Pflanzen zu schmackhaften Gerichten verkocht werden konnten. Sie wurden auch zur Aufbewahrung von Körnern, Nüssen und anderen Lebensmitteln verwendet, die so vor kleinen Nagern und anderen Räubern geschützt waren. Mit der Aufwertung der pflanzlichen Nahrung gewannen die Basislager an Bedeutung, da dort bessere Möglichkeiten für deren Zubereitung bestanden. Schließlich brauchte man zum Kochen und Backen allerlei Gerätschaften, die auf einem Jagdtrip eher hinderlich waren.

Wo viel mit Früchten und Samen hantiert wird, entsteht Abfall, der, so er in den Boden gelangt, unter Umständen wieder zu keimen beginnt. Siehe da, aus solchem Abfall entstanden neue Pflanzen, die wiederum Samen und Früchte trugen. Irgendwann mag jemand auf die Idee gekommen sein, diesen Prozess nicht dem Zufall zu überlassen, sondern gezielt Samen in den gelockerten Boden einzulegen. Vielleicht war der erste Versuch gleich ein voller Erfolg, vielleicht bedurfte es aber auch mehrerer Anläufe bis ein achtbares Ergebnis erzielt wurde. Die Versuche zeigten jedenfalls, dass Pflanzen eine gewisse Pflege benötigen, wenn man einen vorzeigbaren Ertrag erzielen will. Außerdem war es notwendig, die Saat zu bewachen, damit nicht Tiere die Früchte der Arbeit raubten oder gar alles zerstörten. Um die Saat zu bewachen, musste man im Lager bleiben, das damit zu einer ständig bewohnten Siedlung, zu einem Dorf wurde. Erste Erfolge beim Anbau von Pflanzen gab es wahrscheinlich dort, wo nährstoffreiche Böden und gute klimatische Bedingungen das Wachstum begünstigten. Das Gebiet des „fruchtbaren Halbmonds“ im Nahen Osten bot diese Bedingungen. Man geht davon aus, dass dort vor 15.000 Jahren die ersten Dörfer entstanden. In Asien begann der Prozess des Sesshaftwerdens bereits einige tausend Jahre früher.

Nicht alle Stämme und Sippen wurden gleichzeitig sesshaft, manche zogen weiterhin als Wildbeuter durch die Lande. Gut ausgestattete Dörfer mögen bei ihnen oder bei weniger erfolgreichen Nachbarn Begehrlichkeiten geweckt haben. Wollten die Dörfer nicht um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden, mussten sie sich schützen. Während die Beschaffung und Zubereitung der pflanzlichen Nahrung eher Frauensache war, wurden für den Schutz der Dörfer die Männer gebraucht. Die Männer wollten und sollten aber auch auf die Jagd gehen, so dass man sich für den Schutz etwas anderes einfallen lassen musste. Wälle, Gräben und Zäune wurden errichtet, mit deren Hilfe den vielfältigen Gefahren widerstanden werden sollte. Griff jedoch eine Horde gut bewaffneter Krieger an, dann waren diese Vorkehrungen nicht ausreichend, um das Dorf durch Frauen und Halbwüchsige verteidigen zu können. Das konnte nur mit Hilfe der Männer gelingen, die dazu allerdings im Dorf bleiben mussten. Wenn die Männer aber nicht auf Jagd gehen konnten, wo sollte dann das für die Ernährung so wichtige Fleisch herkommen?

Es gab da eine Geschichte, die schon seit langem an den Lagerfeuern erzählt wurde. Ein junger Mann hatte ein Wolfsbaby gefunden, es mitgenommen und aufgezogen. Dieser Wolf wurde sein ständiger Begleiter, der ihn vor Gefahren warnte, der ihm bei der Jagd half und ihm sogar einmal das Leben rettete, als er von einem Bären angegriffen wurde. Andere meinten, ein Gott hätte den Wolf zum Helfer der Menschen bestimmt. Wie dem auch sei, der Wolf war bereits vor hunderten von Jahren zum wertvollen Helfer und Begleiter der Menschen geworden. Natürlich war es keine Lösung, jedesmal nach Wolfswelpen zu suchen und diese aufzuziehen. Das war auch nicht nötig, denn die Wölfe, die die Menschen begleiteten, paarten und vermehrten sich. Und da nur Wölfe mit bestimmten Eigenschaften als Begleiter akzeptiert werden konnten, prägten sich deren Merkmale im Laufe der Zeit stärker aus. Die Wölfe wurden zu Hunden, zu treuen Gefährten der Menschen.

Durch die Erfahrungen mit den Wölfen wurde es grundsätzlich vorstellbar, Tiere an den Menschen zu gewöhnen. Vielleicht hatte es auch schon Erlebnisse mit einem gefundenen Frischling oder einem anderen Tierbaby gegeben, das, erst Spielgefährte, später zu einer schmackhaften Mahlzeit geworden war. Für einen derartigen Leckerbissen war kein langer und gefährlicher Jagdausflug von Nöten. Hatte man eine Vielzahl solcher Tiere zur Verfügung, konnten die Männer am heimischen Herd verbleiben, das Dorf beschützen und beim Ackerbau helfen. Die Tiere mussten allerdings ständig bewacht werden, damit sie nicht davonliefen oder zur Beute hungriger Raubtiere wurden. Deshalb wurden sie mit in die Behausung genommen oder anderweitig in der Nähe der Menschen einquartiert. Der daraus entstehende enge Kontakt mit den Tieren zeitigte jedoch neuartige Probleme. Bis dahin unbekannte Krankheiten sprangen von den Tieren auf die Menschen über und verbreiteten sich schnell.

Tiere wurden anfangs vor allem als Fleischlieferanten gehalten. Natürlich fanden auch andere tierische Produkte, wie Eier und Milch oder Häute, Federn und vieles anderes, Verwendung. Bald erkannte man, dass sich einige der Tiere auch für andere Zwecke, wie der Arbeit auf dem Feld, einsetzen ließen. Wollte man sie als Arbeitstiere nutzen, durften sie jedoch nicht geschlachtet werden. Darüber hinaus mussten von allen Tieren einige für die Nachzucht bleiben. Da die Zahl der Tiere, die in den Dörfern genährt und beschützt werden konnten, begrenzt war, kann man sich vorstellen, dass ein Braten eher selten, das heißt nur zu besonderen Anlässen, auf den Tisch kam. Das tägliche Einerlei wurde vor allem mit Pflanzenkost bestritten. Diese Kost war auf die Dauer recht einseitig, das heißt von partiellem Mangel geprägt. Sie führte zu einer in der Tendenz schwächer werdenden Konstitution der Menschen.

Zu den positiven Effekten des Sesshaftwerdens zählt, dass damit bessere Bedingungen für die Herstellung von Werkzeugen und anderen Gerätschaften entstanden. Viele dieser Dinge machten das Leben angenehmer oder wenigstens etwas leichter. Da man sie nicht mehr mit sich herumschleppen musste, konnte der Haushalt auch ruhig größer werden. Ein gut ausgestatteter Haushalt war sogar bald Zeichen von Wohlstand. Natürlich konnte jeder versuchen, die benötigten Werkzeuge und Gerätschaften selbst herzustellen, das Ergebnis wäre aber wahrscheinlich wenig befriedigend gewesen. Außerdem gab es einige, die besondere Fähigkeiten und Erfahrungen auf diesem Gebiet besaßen. Die von ihnen gefertigten Dinge waren handlicher, zweckmäßiger, vielleicht auch schöner, jedenfalls besser als die der anderen. Sie wurden von allen begehrt. Die talentierten Handwerker waren bald ausschließlich damit beschäftigt, den entstehenden Wünschen nachzukommen.

Aber auch Handwerker und deren Familien brauchen Nahrung. Sie mussten also für die  Produkte ihrer Arbeit eine Gegenleistung in Form von Nahrungsmitteln erhalten. Nur, wie war diese Gegenleistung zu bemessen? Aus der Sicht des Handwerkers sollte für die Erzeugung der Gegenleistung mindestens der gleiche Aufwand an Arbeit notwendig gewesen sein, den er für die Herstellung seines Produkts aufgebracht hatte. Der Erwerber hatte seinerseits zu entscheiden, inwieweit der Nutzen des Produkts seinen Aufwand für die Erzeugung der geforderten Gegenleistung rechtfertigte. Hatte man schließlich die unterschiedlichen Interessen auf einen Nenner gebracht und die Produkte getauscht, dann hatten beide einen Teil ihrer Arbeit veräußert und sich gleichzeitig fremde Arbeit zu eigen gemacht. Das Produkt, in dem die fremde Arbeit geronnen war, wurde Eigentum des Erwerbers, über das nur er verfügen durfte. Da prinzipiell jedes Produkt dazu taugte, in Produkte fremder Arbeit getauscht zu werden, waren auch die eigenen Produkte als Eigentum anzusehen, von dem andere ausgeschlossen blieben. Die Entstehung von privatem Eigentum ist also eng mit dem Sesshaftwerden der Menschen verbunden. Daneben gab es natürlich auch weiterhin Dinge, die von allen genutzt werden konnten. Im Unterschied zum entstehenden Privateigentum blieben sie in der Verfügungsgewalt der Gemeinschaft, die die Regeln für ihre Verwendung festlegte.

Nachdem der Handwerker das Dorf mit seinen Erzeugnissen versorgt hatte, brauchte er, wollte er nicht wieder als Bauer tätig sein, neue Einnahmequellen. Er mag überlegt haben, welche Dinge er noch fertigen könnte, die für die anderen von Interesse wären. Vielleicht war ja bereits der ein oder andere Wunsch an ihn herangetragen worden. Eine weitere Möglichkeit, Einnahmen zu generieren, bestand darin, die Erzeugnisse anderen Sippen anzutragen. Nützliche Dinge fanden auf diese Weise Verbreitung über Sippen- und Stammesgrenzen hinweg. Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte wurde dieser Austausch immer umfänglicher. Bald wurden nicht mehr nur Nahrungsmittel als Gegenleistung akzeptiert, auch Erzeugnisse fremder Handwerkskunst oder seltene Naturprodukte waren begehrt. Nach und nach schälten sich einige Dinge heraus, die von allen als Gegenleistung akzeptiert wurden, weil sie jederzeit gegen andere Güter eingetauscht werden konnten. Diese Dinge wurden zu Mittlern des Tausches, zu Zahlungsmitteln. Die Herausbildung solcher Zahlungsmittel änderte nichts am Grundprinzip des Wirtschaftens, denn nach wie vor stand der Erhalt von Nahrung im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Strebens.

Grundlage dafür, dass sich einige Menschen ausschließlich der handwerklichen Arbeit widmen konnten, waren Ertragssteigerungen in Ackerbau und Viehzucht. Sie ermöglichten nicht nur die Freistellung einzelner für besondere Aufgaben sondern auch ein Wachstum der gesamten Population. Damit wurden auch die Siedlungen größer, was wiederum mit einem höheren Bedarf an unterschiedlichen Produkten verbunden war. Die daraus resultierende Nachfrage beförderte ihrerseits die Entwicklung des Handwerks und trug zur Belebung des Handels bei. Händler legten mit Trägern oder mit Booten immer weitere Entfernungen zurück, um ihre Waren feilzubieten und Produkte ferner Länder herbeizuschaffen. Sie brachten auch Ideen und neue Werkstoffe, wie das Kupfer, mit, das bald überall heiß begehrt war. Schritt für Schritt verbreiterte sich der Strom der Güter. Nun wurden auch Lasttiere, wie Kamele, Esel und Pferde, eingesetzt, um die wachsenden Warenmengen zu bewegen. Dann hatte jemand die Erleuchtung, dass sich runde Scheiben nicht nur zum Töpfern eignen, sondern dass man sie als Räder unter einer Kiste befestigen kann, so dass ein Karren entsteht, mit dem sich Lasten leichter transportieren ließen.

Während das Rad schrittweise, im Kontext der allgemeinen Entwicklung, sein großes wirtschaftliches Potenzial zur Geltung brachte, führte eine andere Entdeckung beinahe unmittelbar zu gesellschaftlichen Veränderungen. Verschmolz man Kupfer und Zinn in einem bestimmten Verhältnis, dann entstand ein Werkstoff, der sich gut verarbeiten ließ und trotzdem enorm strapazierfähig war. Dieser Werkstoff, die Bronze, fand vor 5.000 Jahren eine geradezu rasante Verbreitung. Aus Bronze ließen sich neue und vor allem bessere Werkzeuge und Waffen herstellen. Mit solchen Werkzeugen wurde es beispielsweise möglich, mächtigere Bäume zu fällen, aus denen sich größere Schiffe bauen ließen, die auch den Gefahren der Meere widerstanden. Viele bis dahin ungekannte Gewerke und Berufe entwickelten sich. Im Zuge der nun einsetzenden wirtschaftlichen Belebung wuchsen einige Siedlungen zu Städten heran, die ihren Wohlstand häufig dem Fernhandel verdankten. Die Bronze wurde, da sie ein begehrter Werkstoff war, zu einem allseits akzeptierten Zahlungsmittel. Aber auch Kupfer, Bernstein und einiges anderes erhielt eine vergleichbare Wertschätzung.

Große Gemeinwesen, wie die Städte, stellen hohe Anforderungen an die Organisation des Zusammenlebens. In viel umfänglicherem Maße als bisher waren Normen erforderlich, die die komplexer gewordenen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft regelten. Es reichte jedoch nicht, solche Normen zu verkünden, sie mussten auch durchgesetzt werden. Das heißt, neue Aufgaben waren zu bewältigen, für deren Realisierung Menschen gebraucht wurden, die über die erforderlichen Kenntnisse verfügten. Die entstehenden Verwaltungen mussten also angeleitet und beaufsichtigt werden. Diese Verantwortung wurde einem Rat aus angesehenen Mitgliedern der Gemeinschaft übertragen. Zu den Aufgaben des Rates gehörten auch die Anpassung der Regeln an veränderte Bedingungen, die Schlichtung von Streitigkeiten sowie die Weiterentwicklung des Gemeinwesens. Diese Befugnisse eröffneten jedoch die Möglichkeit, aus ihnen persönlichen Vorteil zu ziehen, so dass bald ein Streben nach immer mehr Kompetenzen einsetzte, das zur Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen weniger führte. Die Balance zwischen Gleichberechtigung und Solidarität auf der einen Seite und Führerschaft auf der anderen, die die Gemeinschaften der Jäger und Sammler geprägt hatte, ging auf diese Weise verloren. An ihre Stelle trat ein System abgestufter Rechte und Pflichten, das mehr und mehr von sozialen Unterschieden und der Distanz der gesellschaftlichen Gruppen zueinander geprägt war. Hinzu kam, dass die entstandenen Verwaltungen immer größer und mächtiger wurden. In den Augen der Menschen wurden sie zu etwas Übergeordnetem, ihnen Fremdes. Staaten waren entstanden.

Zu den Aufgaben des Staates gehört der Schutz der Gemeinschaft vor äußeren Feinden. Gerade der wachsende Wohlstand der Städte rief Neider auf den Plan, die auch Gewalt nicht scheuten, um ein Stück vom Kuchen zu ergattern. Wollte man sich vor Überfällen schützen, reichte es nicht aus, Mauern zu bauen und Waffen zu beschaffen, man musste die Handhabung der Waffen auch unablässig trainieren. Das ging nicht nebenbei, neben den täglichen Verrichtungen als Bauer, Handwerker oder Händler. Krieger zu sein, wurde zu einem eigenständigen Beruf. Gut ausgebildete Soldaten brauchte man aber nicht nur für den Schutz der Städte, auch die Handelswege waren mit bewaffneten Stützpunkten zu sichern, gerade weil sich der Reichtum zu großen Teilen aus dem Fernhandel speiste. Außerdem musste für einen permanenten Zufluss an Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus den untergebenen Territorien gesorgt werden. Gut ausgerüstete und trainierte Armeen ließen sich darüber hinaus für eigene Erorberungen, die Reichtum und Ansehen versprachen, einsetzen. Eine besonders wichtige Kriegsbeute jener Zeit waren Menschen anderer Völker. Sie wurden gebraucht, um Bauten zum Ruhm der Herrschenden oder auch nur für deren Wohlleben zu errichten. Außerdem brauchten die Herren Diener, die die immer aufwendiger werdenden Haushalte am Laufen hielten. Die eigene Bevölkerung war meist nicht in der Lage, diese zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen, hatte sie doch die wirtschaftlichen Grundlagen der Gemeinschaft, die Erzeugung beziehungsweise Beschaffung von Nahrungsmitteln, von Waffen, Werkzeugen und Gerätschaften, von Kleidung, Schmuck und was sonst noch benötigt wurde, zu sichern. Nur mit Hilfe von Sklaven konnte wahrer Luxus entstehen.

Der Zusammenhalt der Gemeinschaften war ursprünglich durch die gemeinsame Sprache, durch überkommene Traditionen, Regeln und Rituale, aber auch durch einen gemeinsamen Glauben begründet worden. Der Glaube spielte sogar eine wachsende Rolle, nicht zuletzt weil die sozialen Strukturen dem einzelnen in zunehmendem Maße mysteriös erschienen. Wieso gab es einige, die nicht tagein tagaus schufteten und doch in Luxus lebten und andere, die trotz größter Anstrengungen kaum genug hatten, ihre Kinder zu nähren? Irgendjemand musste das doch festgelegt haben. Die Religionen lieferten Erklärungen, wobei sie die Verhältnisse, die das soziale Gefälle in der Gesellschaft bewirkten, als von Gott und den Göttern gegeben, proklamierten. Die aus ihnen hervorgegangenen Privilegien hatten deshalb als unantastbar zu gelten. Der Glaube wurde auf diese Weise zu einer staatstragenden Institution, deren Vertretern Respekt zu zollen war. Teile des Klerus waren häufig auch direkt an der Verwaltung der Gemeinwesen beteiligt. Außerdem oblag es den Priestern, das vorhandene Wissen über die Natur, die Gesellschaft und die Menschen zu bewahren und darüber zu wachen, dass die herrschenden Lehren die einzig gültigen blieben.

Das in der Gesellschaft gesammelte Wissen wurde mündlich weitergetragen. Mit der Zeit war dieses Wissen jedoch immer umfänglicher geworden, so dass es kaum mehr durch einzelne Personen erhalten werden konnte. Ähnliches galt für die Vielzahl der geltenden Normen und Regeln, deren Einhaltung von den Verwaltungen überwacht werden sollte. Hinzu kam, dass mit den wirtschaftlichen Verflechtungen das Bedürfnis wuchs, die gegenseitigen Verpflichtungen nachweisbar festzuhalten, um Streitigkeiten zu vermeiden. Man musste also etwas finden, womit sich Verpflichtungen, Regeln und Wissen dauerhaft dokumentieren ließen. Symbole, die Mengenangaben und Wörter bezeichneten, wurden ersonnen. Man brachte sie auf Steinen, auf Holzbrettern, Ton- und Wachstafeln, auf Papyros oder anderem Material auf und konnte so jederzeit auf die mit ihnen festgehaltenen Inhalte zugreifen. Damit war die Sicherung und Verbreitung von Fakten und Erkenntnissen nicht mehr an einzelne Wissensträger gebunden; sie konnten nun jederzeit und unabhängig von Personen einem größeren Kreis von Menschen zugänglich gemacht werden. Damit wurde es möglich, auch größere Gemeinwesen zu managen. Sie wurden mitunter zur Keimzelle einer Hochkultur. Eine dieser frühen Hochkulturen, das Reich der Pharaonen, überdauerte Jahrtausende.

Nach der Bronze war es vor allem das Eisen, das zu gesellschaftlichen Veränderungen beitrug. Allerdings verbreitete es sich nicht im Sturmlauf, wie die Bronze, sondern über einen langen Zeitraum, denn seine Verarbeitung, insbesondere seine Veredlung, erwies sich als schwierig. Der entscheidende Vorteil des Eisens bestand darin, dass es fast überall verfügbar war. Es war dadurch kostengünstiger und konnte einen breit gefächerten Einsatz im täglichen Leben finden. In veredelter Form zeigte es darüber hinaus Eigenschaften, die denen der Bronze überlegen waren. Aus Stahl ließen sich deutlich bessere Waffen herstellen, die die Kampfkraft der Krieger erhöhten. Da man darüber hinaus gelernt hatte, Pferde so zu trainieren, dass sie einen Reiter trugen und diesem gehorchten, wurden ganz neue Varianten der Kriegsführung möglich. Die Reichweite der Raubzüge erreichte ungeahnte Dimensionen, riesige Gebiete konnten erobert werden. Den so entstehenden Reichen war allerdings meist keine langes Dasein beschieden, denn es erwies sich als unmöglich, die riesigen Territorien dauerhaft zu beherrschen respektive zu verwalten. Als Ausnahmen können das chinesische und das römische Reich gelten, die, basierend auf einer starken Zentralmacht, einer schlagkräftigen Verwaltung und einer ausgeklügelten Infrastruktur lange Zeit überdauerten. Trotz mancher Brüche und Rückschläge beeinflussten beide den Lauf der Geschichte bis in die Neuzeit hinein.

Rom war als kleines städtisches Gemeinwesen gestartet. Es vergrößerte Schritt für Schritt seine Einflusssphäre. In diesem Prozess wurden die ursprünglichen egalitären Elemente zugunsten hierarchsicher Strukturen zurückgedrängt. Gleichzeitig entwickelte sich eine effiziente Verwaltung, die nicht nur die Metropole sondern auch die eroberten Gebiete umfasste. Die schnell wachsende Stadt brauchte Wasser und Nahrungsmittel wie auch viele andere Dinge, die aus der Umgebung oder aus den unterworfenen Provinzen herangeschafft werden mussten. Zu diesem Zweck wurde eine fortgeschrittene Infrastruktur aus Wasserleitungen, Straßen, Schiffahrtswegen und Kurierdiensten geschaffen. Das Ganze ruhte auf den Schultern einer bestens ausgebildeten und bewaffneten Berufsarmee, die sehr bald nicht mehr nur aus den Bürgern Roms gespeist wurde. Die Armee hatte auch den ständigen Zufluss an Menschen, an Sklaven zu sichern, denn die Mächtigen wollten prächtige Bauten errichten, dem Volk Spiele geben und sich selbst nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lassen. Natürlich waren andere Völker nicht ohne weiteres bereit, ihre Ressourcen dem Moloch Rom in den Rachen zu werfen, so dass die Streitkräfte selbst in den seltenen Friedenszeiten nicht beschäftigungslos blieben.

Das römische Reich wurde nicht nur durch innere Konflikte verunsichert, auch von außen drohte immer wieder Ungemach. In ihrem Streben nach Verbesserung des eigenen Lebens bedrängten fremde Völker die Grenzen. Man errichtete Zäune, Wälle und Mauern, die diese Grenzen schützen sollten, sie konnten die Sicherheit jedoch nicht auf Dauer garantieren. Das riesige Reich würde nur bestehen, wenn der innere Zusammenhalt stark blieb. Dazu mussten die verschiedenen Völker, die durch unterschiedliche kulturelle und religiöse Traditionen geprägt waren, in die Gesellschaft und dessen Verwaltung eingebunden werden. Die Integration beschränkte sich jedoch meist auf die Eliten, denen Aufstiegschancen in Armee und Verwaltung eröffnet wurden. Dies konnte nicht verhindern, dass das ursprüngliche Bande, das durch eine einheitliche Sprache, Religion und Kultur entstanden war, an Kraft verlor. Die große Ausdehnung des Reiches wurde vom Segen zum Fluch. Irgendwann konnte das im Inneren erodierende Rom dem fortgesetzten Ansturm der Völker nicht mehr standhalten. Es wurde überrannt. Der Untergang des weströmischen Reichs geriet zur Zäsur, die eine Epoche kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung beendete und Mitteleuropa zu einem Neustart in die Geschichte zwang.

zuletzt bearbeitet: 02.10.2019

Quelle

1)  GEO kompakt Nr. 37, Die Geburt der Zivilisation

 

 

Bild: bibelwissenschaft.de

Jäger und Sammler

Die Homo sapiens vermehrten sich prächtig. Am Beginn ihres Weges sollen rund 10.000 Individuen auf den Beinen gewesen sein, als sie sesshaft wurden, waren es bereits eine Millionen.1) Das Wachstum der Population wurde nicht zuletzt durch ihre Jagderfolge möglich. Hinzu kamen neue Verfahren für die Zubereitung pflanzlicher Kost, so dass die Ernährungsbasis insgesamt reichhaltiger wurde. Das Wachstum der Population führte auch zu einer stärker werdenden Konkurrenz der Sippen um die Jagdgebiete. Einige waren gezwungen, in andere Gebiete auszuweichen, so dass sich die Homo sapiens nicht nur in Afrika sondern auch auf anderen Kontinenten verbreiteten. In den größer werdenden Gemeinschaften war nicht jeder für alles zuständig. Neben die physiologisch geprägte Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen trat eine Aufgabenteilung, die aus der körperlichen Verfasstheit, aus Talenten und Neigungen entsprang. Damit wurden auch die Beziehungen in den Gemeinschaften vielfältiger, was höhere Anforderungen an die Kommunikation mitsichbrachte. Zur Bezeichnung der vielfältigen Sachverhalte wurden immer mehr kombinierbare Lautfolgen, also Silben und Wörter, gebildet, deren Verwendung allgemein bekannten Regeln folgen musste, damit sie von allen in gleicher Weise verstanden wurden.

Der moderne, in Gesellschaften lebende Mensch, entstand. Die frühen Formen dieser Gemeinschaften hat man als Urgesellschaften, als Gemeinschaften von Jägern und Sammlern bezeichnet. Heute findet man häufig den Begriff der Wildbeutergesellschaft, der unterstreicht, dass das Überleben der Menschen maßgeblich vom Jagderfolg abhing. Die Wildbeuterei bestimmte ihren Lebensrythmus. Trotz der gemeinsamen Lebensgrundlage waren die Gemeinschaften der Jäger und Sammler recht unterschiedlich verfasst. Das resultierte schon daraus, dass diese Gemeinschaften tausende von Jahren existierten, in denen sie sich in ihrem Zusammenleben immer wieder den sich verändernden Bedingungen anpassen mussten. Außerdem fanden die Menschen in den einzelnen Weltengegenden unterschiedliche Bedingungen vor, die ebenfalls die Art und Weise ihres Zusammenlebens beeinflussten. Trotz dieser Unterschiede in Ort und Zeit sind für die Gesellschaften der Jäger und Sammler auch gemeinsame Merkmale und Entwicklungen charakteristisch.

Der Prozess der sozialen Differenzierung war, wie geagt, nicht bei der Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen stehengeblieben. Im Laufe der Zeit traten die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen stärker in den Vordergrund. Einige waren besonders stark, andere besonders geschickt, einige verfügten über ein gutes Gedächtnis, andere über eine hohe soziale Kompetenz. Diese Fähigkeiten brachten die Menschen in das Leben der Gemeinschaft ein. Der erfahrenste Jäger bereitete den gemeinsamen Jagdzug vor; vielleicht führte er auch das Jungvolk in die Geheimnisse der Wildbeuterei ein. Auch die Herstellung von Werkzeugen und Waffen gewann immer größere Bedeutung. Es wurden Klingen, Bohrer und Kratzer benötigt, genauso Jagdgeräte wie Pfeil- und Speerspitzen sowie Angeln und Tierfallen. Für die Herstellung dieser Dinge waren spezielle Erfahrungen und Fertigkeiten erforderlich, über die nicht jeder in gleichem Maße verfügte. Damit nicht genug, die Gemeinschaft brauchte auch Unterkünfte, Kleidung und Schmuck, die gefertigt und instand gehalten werden sollten. Natürlich konnte jeder versuchen, all dies selbst zu bewerkstelligen, ob aber der selbst gefertigte Schmuck dann auch schmückend war, ist eine andere Frage. Außerdem gab es in der Gruppe jemanden, dessen Schmuck von allen bewundert wurde und den man bitten konnte, das ein oder andere seiner Stücke abzugeben.

Nicht nur handwerkliche Fähigkeiten machten einen Unterschied. Es gab auch Frauen und Männer, die mehr als andere über Pflanzen und deren Wirkung auf Mensch und Tier wussten. Mit Hilfe dieser Pflanzen konnten Wunden geheilt oder Gebrechen gelindert werden. Manche von ihnen hatten eine betäubende Wirkung, andere konnten gar töten. Dieses spezielle Wissen ließ sich nicht nur für die Heilung von Krankheiten einsetzen, es war auch möglich, rauschartige Zustände, die von einer veränderten Wahrnehmung der Umwelt begleitet waren, zu erzeugen. Das Wissen um diese Dinge muss den anderen geheimnisvoll erschienen sein. Das Geheimnisvolle dieses Wissens übertrug sich auf die Personen, die mit ihm umgingen. Ihnen wurde mit Ehrfurcht begegnet, das heißt, sie wurden verehrt aber auch gefürchtet. Diese Frauen und Männer waren sich ihrer besonderen Stellung durchaus bewusst. Sie unterstrichen diese durch äußere Attribute, wie speziellen Schmuck oder Kleidung, die nur ihnen vorbehalten war.

Außer Medizinmännern und Heilerinnen bedienten sich auch andere äußerer Attribute, um die eigene Stellung zu unterstreichen. Geschickte Jäger oder erfahrene Krieger schmückten sich zum Beispiel mit Trophäen ihres Erfolgs. Jeder konnte dies auf seine Weise tun. Nach und nach bildeten sich jedoch allgemein beachtete Standards heraus, die es ermöglichten, die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft an diesen äußeren Zeichen abzulesen. Das heißt, sie wurden zu Statussymbolen, die diesen Menschen vorbehalten waren. Diese Statussymbole, genauso wie Kleidung, Werkzeuge und Waffen, gehörten zu einzelnen Personen, sie bildeten deren persönliche Habe. Eine nicht autorisierte Verwendung dieser Dinge konnte zu Konflikten führen. Trotzdem war mit diesen Dingen kein Eigentum verbunden, denn Eigentum setzt das Gegenteil, die mögliche Veräußerung des jeweiligen Gutes voraus. Für derartige Veräußerungen fehlte jedoch die materielle Basis, da jeder nur das Notwendigste auf den Wanderungen mitführen konnte. Ein veräußerungsfähiger Überschuss an Dingen war mit der Lebensweise der Jäger und Sammler nicht vereinbar. Außerdem waren die Gemeinschaften auf Solidarität angewiesen, die nicht durch die übermäßige Betonung der Unterschiede gefährdet werden durfte.

Die Wildbeuter waren Nomaden, die, um ihre Ernährung zu sichern, den Tieren folgten. Trotzdem kamen sie gern zu bestimmten, vorteilhaft gelegenen Unterkünften zurück. Diese Unterkünfte wurden zur Basis für mehr oder weniger lange Streifzüge. Für die Ausgestaltung dieser Behausungen betrieb man einigen Aufwand. Handelte es sich um Höhlen, so konnten zum Beispiel die Wände bemalt werden. Bevorzugte Motive waren Tiere und Jagdszenen, schließlich hing vom erbeuteten Wild das eigene Überleben ab. Vielleicht sollte die bildliche Darstellung von Tieren oder von Jagdszenen aber auch zur Versöhnung mit den getöteten Kreaturen beitragen. Fand man keine Höhle vor, die als Behausung dienen konnte, dann erhielten Basislager aus Zelten oder einfachen Holzbauten eine vergleichbare Bedeutung. Die Behausungen in diesen Lagern waren stabiler als die auf der Jagd verwendeten. Sie konnten eine Kochmulde, einen Rauchabzug oder andere Annehmlichkeiten enthalten. Leicht zerbrechliche Gebrauchsgegenstände oder andere Dinge, die auf den Jagdzügen eher hinderlich gewesen wären, konnten dort verbleiben. Je mehr Komfort mit den Basislagern verbunden war, desto attraktiver wurden sie für ihre Bewohner.

Die Beziehungen, die sich innerhalb der Gemeinschaften entwickelten, waren durch familiäre Bande geprägt. Sie wurden durch Kontakte zu anderen Sippen ergänzt. Die größer gewordene Population hatte es möglich gemacht, dass sich die Sippen häufiger trafen. Bei diesen Gelegenheiten wurden Neuigkeiten und Erfahrungen ausgetauscht, vielleicht auch ein Weib gefreit. Sicher hat man auch Waffen und Werkzeuge getauscht, denn die Sippen entwickelten unterschiedliche Fähigkeiten und Stärken. Darüber hinaus wechselten Schmuckstücke, die sich durch besondere Materialien oder durch die Kunstfertigkeit ihrer Herstellung auszeichneten, den Besitzer. Auch Gegenstände, die einen künstlerischen Anspruch befriedigten, wie kleine Figuren oder Musikinstrumente, wurden weitergegeben. Einige Dinge, wie seltene Muscheln oder Federn, spielten, da sie allgemein begehrt waren, bald eine besondere Rolle. Man konnte sie jederzeit als Tauschobjekt akzeptieren, da sie sich problemlos in andere, begehrte Dinge eintauschen ließen. Charakteristisch ist, dass der Tausch vorwiegend zwischen den Sippen stattfand und dass der daraus gezogene Vorteil der Gemeinschaft zugute kam. Die Begegnungen mit anderen Clans mögen allerdings nicht nur friedlich verlaufen sein. Mitunter ging es auch um Leben und Tod, zum Beispiel dann, wenn Streit um die Jagdgebiete entbrannte. Auch auf einen solchen Fall mussten die Sippen vorbereitet sein. Wahrscheinlich war es der erfahrenste Kämpfer, der die Ausbildung der zukünftigen Krieger übernahm. Er würde sie im Ernstfall auch in den Kampf führen.

Mit der Aufgabenteilung in den Gemeinschaften entstanden Unterschiede im Ansehen der Personen. Einzelne erhielten oder übernahmen eine führende Rolle, sei es für die Jagd, den Kampf mit anderen Sippen, die Betreuung der Kinder, die Ausbildung des Nachwuchses oder die Organisation des Zusammenlebens. Die Übernahme einer solchen Führungsaufgabe war vor allem durch individuelle Vorzüge, die die einzelnen mitbrachten, begründet. Natürlich entstand im Zusammenleben auch Streit, zu dessen Regelung sich Rituale, wie Wettkämpfe oder öffentliche Dispute, herausbildeten. Sie wurden von einer allseits geachteten Person geleitet, die die Einhaltung der Regeln überwachte und die das Ergebnis verkündete. Immer öfter mag dieser Schiedsrichter anstehende Streitfragen auch auf der Basis seiner Erfahrungen und der ihm zugewachsenen Autorität entschieden haben, ohne die zeitaufwendigen Rituale zu bemühen. Trotzdem blieben diese wichtig für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Ähnliches gilt für die gemeinschaftliche Beratung und Entscheidung von wichtigen Fragen des Zusammenlebens. Zu welchen konkreten Themen Beratungen stattfanden, wer daran teilnehmen und wer mitreden durfte, war in den Gemeinschaften unterschiedlich geregelt.

Regeln, oft auch in Form von Tabus, bestimmten beinahe alle Facetten des Zusammenlebens. Sie waren bewährt und wurden von Generation zu Generation weitergetragen. Für ihre Einhaltung sorgte die gesamte Gemeinschaft, wobei auch hier einzelnen eine besondere Verantwortung zuteil werden konnte. Die Regeln wiesen jedem seine Rolle in der Gemeinschaft zu, sie verlangten einen bestimmten Umgang miteinander und sie sicherten die Ernährung aller sowie die Fürsorge für die Bedürftigen. Nicht zuletzt legten sie fest, welche Paarungen toleriert wurden und wie sie zustande kommen sollten. Mit den Regeln waren häufig Rituale verbunden, deren Achtung zum Bestandteil der Regeln wurde. Die Rituale betrafen vor allem die für das Leben bedeutsamen Momente, wie die Geburt eines Kindes, die Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen, die Vermählung und den Tod. Paradoxerweise hat vor allem der Tod, durch Grabbeilagen, bleibende Spuren hinterlassen.

Mit der inneren Struktur der Gemeinschaften entwickelte sich auch ihre Sprache weiter. Anfänglich mögen die benutzten Laute und Lautkombinationen über Sippengrenzen hinweg verstanden worden sein. Sie waren in ihrer Zahl beschränkt und fanden durch den Kontakt untereinander Verbreitung. Erst nach und nach entstanden in den Gemeinschaften eigenständige Gewohnheiten der Kommunikation, vor allem weil die Gruppen größer und das Leben in ihnen vielfältiger wurde. Je mehr sich die Population territorial ausdehnte, umso mehr unterschieden sich die Lebensumstände der einzelnen Gruppen voneinander, was ebenfalls in Besonderheiten der Kommunikation seinen Niederschlag fand. Da man schon wegen der Entfernungen mit vielen Sippen kaum mehr Kontakt aufnehmen konnte, prägten sich diese Besonderheiten immer stärker aus. Unterschiedliche Sprachen entstanden. Sie trugen auf der einen Seite zur Stärkung des Zusammenhalts der jeweiligen Gemeinschaften bei, auf der anderen Seite führten sie zur Entfremdung von anderen. Als eine Folge dieser Entwicklung bildeten sich neben den Sippen größere, durch Sprache und Tradition verbundene Stämme und Sprachfamilien heraus, die sich immer mehr von anderen abgrenzten.

Sprache, das heißt Kommunikation, wurde unter anderem benötigt, um die vielfältigen Erfahrungen des Alltags weiterzugeben. Derjenige, der sich Erfahrungen eines anderen zu eigen machen will, muss sie mit eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen, sie in der einen oder anderen Weise den eigenen Erfahrungen zuordnen. Damit Anknüpfungen gefunden werden können, ist es erforderlich, die Erfahrungen auf wesentliche Merkmale zu reduzieren. Der Prozess der Reduzierung auf Wesentliches prägte zunehmend auch die Entwicklung der Sprache. Während die ersten Laute und Lautkombinationen sehr spezifische Sachverhalte bezeichneten, begannen die Worte nun vielfach auf übergreifende Charakteristika der Dinge und Geschehnisse abzuheben. Sie wurden zu Begriffen, die von Details abstrahieren. Ein Löffel ist ein Löffel, egal ob er aus Holz oder Bein gefertigt wurde, ob er lang oder kurz, gerade oder gebogen ist. Die sprachliche Differenzierung nach derartigen Details erfolgte nur, wenn sie für den Zweck, dem die Beschreibung diente, von Belang war. Anders gesagt, die Entwicklung der Sprache ging mit der Ausprägung des Abstraktionsvermögens einher. Gleichzeitig entwickelte sich die Fähigkeit, unterschiedliche Lautfolgen respektive Worte so miteinander zu kombinieren, dass komplexe Sachverhalte wiedergegeben werden konnten. Damit taugte die Sprache nicht mehr nur zur Signalgebung sondern auch zur Formulierung und Weitergabe von Wissen, Meinungen und Ideen.

Das Wissen der damaligen Menschen war auf Beobachtungen über Zusammenhänge in der Natur oder im Zusammenleben der Gemeinschaft gegründet. Zu ihrem Wissen gehörten zum Beispiel Kenntnisse über essbare Pflanzen sowie deren Zubereitung. Einige Pflanzen hatten zudem eine heileinde Wirkung, die bei Beschwerden Linderung verschafften. Man hatte auch gelernt, die Spuren der Tiere zu erkennen und sich deren Gewohnheiten und Eigenarten bei der Jagd zunutze zu machen. Außerdem konnten Zusammenhänge zwischen Naturerscheinungen und dem Verhalten von Tieren gedeutet werden. Trotzdem blieb vieles unerklärlich. Warum blitzte und donnerte es? Warum hatte man an dem einen Tag Jagderfolg und dann wieder lange Zeit nicht? Woher kamen Krankheiten und wohin gingen die Menschen nach dem Tode? Dort wo es keine konkreten Antworten gab, versuchten die Menschen, plausible Erklärungen zu finden. Von den Vorfahren hatte man zum Beispiel gelernt, dass Tiere und Pflanzen Wesen seien, die man für sich einnehmen muss, damit sie oder ihre Artgenossen auch weiterhin mit ihrem Fleich oder ihrem Samen der eigenen Ernährung dienen würden. Da es in der Sippe ein Oberhaupt gab, das Streitfragen regelte, war es nur wahrscheinlich, dass es auch bei den Tieren Häuptlinge gab, die es zu besänftigen galt, wenn man ihrer Sippe Leid zugefügt hatte. Diese Vorstellungen erklärten aber noch nicht, warum es blitzte und donnerte. Vielleicht gab es da jemanden im Himmel, der, einem Vater gleich, ab und an seinem Zorn über das Treiben auf Erden Luft verschaffen musste. Ihn galt es, mit Gesängen, Gebeten oder auch Opfern, milde zu stimmen.

Nach und nach entstand ein Geflecht von Anschauungen über die Natur und die Menschen, bestehend aus Erfahrungen, Regeln, Ritualen und Überzeugungen, das zum Allgemeingut wurde. Diese gemeinsamen Anschauungen bildeten ein Band, das die Gemeinschaft festigte und sie gleichzeitig von anderen abgrenzte. Diese Anschauungen und die mit ihnen verbundenen Regeln wurden mit der Zeit immer vielfältiger, so dass bald nicht mehr jeder in der Lage war, alle ihre Feinheiten zu verstehen. Einzelne wurden berufen, dieses spezielle Wissen zu bewahren und weiterzugeben. Besonders wichtig war es, die mit den grundlegenden Überzeugungen, das heißt, die mit dem Glauben verbundenen Rituale genauestens einzuhalten, schienen doch die mit ihnen Angesprochenen überaus mächtig zu sein. Personen, die zur Zwiesprache mit den Göttern berufen waren, nahmen bald eine besondere Stellung in den Gemeinschaften ein. Da für die Menschen Behausungen wichtiger wurden, war es nur folgerichtig auch den Göttern Behausungen zu errichten, dass sie eine Heimstatt hätten und dass den Menschen ein Ort der Begegnung mit ihnen gegeben würde.

zuletzt geändert: 18.09.2019

Quellen:

  1. A. Beck, Die Steinzeit, Theiss WissenKompakt 2012
  2. Bisher ging man davon aus, dass der Homo sapiens vor 200.000 Jahren die Bühne der Geschichte betrat. Neue archäologische Funde legen nahe, dass dies mindestens 100.000 Jahre früher der Fall war.
  3. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, Pantheon-Ausgabe 2015
  4. GEO kompakt Nr. 37, Die Geburt der Zivilisation

Bild: forum.zoologist.ru

Es werde Mensch

Schöpfung

Irgendwie ist mir bei diesem Thema Michelangelos Fresco in der Sixtinischen Kapelle, speziell die Erschaffung des Menschen, in den Sinn gekommen. Würde man heute ein Bild über den Schöpfungsakt malen, dann sollte der erste Mensch aber eher eine dunkle Hautfarbe, schwarze Haare und braune Augen haben. Schließlich kam er aus Afrika. Dass er in einem Schöpfungsakt entstanden sei, könnte man dagegen durchgehen lassen, erscheint doch das Auftauchen des modernen Menschen, gemessen an den Zeiträumen, in denen sich die Evolution vollzog, wie eine Laune der Natur. Diese Laune hatte allerdings eine lange Vorgeschichte.

Die erste Art, die der Gattung Mensch zugerechnet wird, ist der Homo habilis.1) Er begann seinen Weg vor rund 2,5 Millionen Jahren, wobei sich sein Aussehen bereits deutlich von dem der äffischen Primaten unterschied. Er konnte seine Hände geschickt einsetzen und einfache Werkzeuge herstellen. Darüber hinaus war er ein guter Läufer, der es vermochte, den Wildherden zu folgen und ab und an Fleisch zu erbeuten, dessen Nährstoffreichtum seiner weiteren Entwicklung zugute kam. Ausdauerndes Laufen verbraucht jedoch viel Energie, die durch Verbrennungsprozesse freigesetzt wird. Dabei entsteht Wärme, die, soll der Körper nicht überhitzen, schnell nach außen abgegeben werden muss. Ein dichtes Fell ist da nur hinderlich. Der Homo habilis entledigte sich seines Pelzes und lief fortan nackt durch die Savanne. Außerdem bildete er Drüsen aus, die bei großer Anstrengung Flüssigkeit absondern, durch deren Verdunstung dem Körper Wärme entzogen wird. Mit den Haaren fiel jedoch auch der Schutz der Haut vor den harten Strahlen der afrikanischen Sonne weg. Sie bildete nun dunkle Pigmente, die einen großen Teil dieser Strahlung absorbieren.

Die läuferischen Fähigkeiten waren zur Überlebensgarantie des Homo habilis geworden. Für ausdauerndes Laufen ist ein schmales Becken von Vorteil. Durch die nährstoffreiche tierische Nahrung wurden die Homo habilis jedoch größer, auch das Gehirn nahm an Volumen zu. Der ebenfalls größer werdende Kopf, der zum Schutz des Gehirns bereits bei der Geburt eine relativ stabile Form besitzt, machte jedoch einen breiteren Geburtskanal erforderlich, der wiederum nicht mit einem schmalen Becken vereinbar war. Außerdem verbraucht so ein Gehirn viel Energie, deren Bereitstellung im Mutterleib an Grenzen stieß. Was auch immer der ausschlaggebende Grund gewesen sein mag, jedenfalls verkürzte sich die Tragezeit der Homo habilis. Damit verlagerte sich ein größerer Teil des Wachstumsprozesses in die nachgeburtliche Phase, was wiederum eine längere und aufwendigere Fürsorge für die Neugeborenen erforderlich machte. Diese Aufgabe fiel naturgemäss den Frauen zu. Während die Männer den Wildherden folgten, um tierische Nahrung zu beschaffen, blieben die Frauen im Lager, wo sie die Kinder hüteten und durch das Sammeln von Wurzeln und Früchten zur Ernährung beitrugen.

Mit dem Wachstum des Gehirns nahm das geistige Potenzial der Menschen zu. Sie waren zunehmend in der Lage, ihre Werkzeuge den Erfordernissen anzupassen und neue Jagdstrategien zu erproben. Auch das Zusammenleben in der Gruppe entwickelte sich, so dass höhere Anforderungen an die Kommunikation untereinander entstanden. Fortschritte in der Kommunikation kamen wiederum der gemeinsamen Jagd und damit der Ernährung zugute. Peu á peu ging die Entwicklung voran, manchmal machte sie wohl auch Umwege. Wie dem auch sei, vor rund 1,9 Millionen Jahren hatte sich eine neue Spezies der Gattung Mensch, der Homo ergaster, herausgebildet, die dem heutigen Menschen schon ziemlich ähnlich sah. Der Homo ergaster war ebenfalls ein ausdauernder Läufer. Außerdem war er ein zunehmend erfolgreicher Jäger, dessen Beute nicht mehr nur aus verletzten oder verendeten Tieren bestand. Der Faustkeil war sein universelles Werkzeug, das er mit großem Geschick zu fertigen und einzusetzen wusste. Er schützte seinen Körper mit Kleidern, die aus Tierfellen und Häuten gefertigt wurden. Das ganz große Ding war jedoch, dass es dem Homo ergaster gelang, das Feuer zu bändigen, das heißt, es selbst zu entfachen und zu seinem Nutzen einzusetzen. Die meisten Räuber der Nacht hatten zum Beispiel Angst vor dem Feuer, so dass man sie mit einem brennenden Scheid verjagen konnte. Außerdem spendete das Feuer Wärme, die in kalten Nächten sehr willkommen war. Es stellte sich auch heraus, dass mit seiner Hilfe die Nahrung aufbereitet werden konnte, die dadurch haltbarer und bekömmlicher wurde. Das Feuer stabilisierte also die Ernährungsbasis des Homo ergaster, was für seine weitere Entwicklung große Bedeutung erlangte.

Wenig später, was sind schon hunderttausend Jahre in den Dimensionen der Evolution, trat ein weiterer Vertreter der Gattung Mensch ins Rampenlicht, der Homo erectus. Er scheint aus Populationen des Homo ergaster hervorgegangen zu sein, die auf der Suche nach neuen Jagdgründen in Richtung Asien gewandert waren. Auch der Homo erectus war ein ausdauernder Läufer. Er ersann neue Jagdstrategien, um mehr und vielfältigere Beute zu machen. So fand man nicht nur Pfeil- und Speerspitzen, sondern auch Harpunen und Angeln, die ihm zugeordnet werden. Er benutzte Werkzeuge, die von ihm weiterentwickelt oder gar neu ersonnen wurden. Darüber hinaus fand man von ihm gefertigten Schmuck, den man als Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins ansehen kann. Die allgemein größer gewordene Bandbreite der Fertigkeiten brachte es nämlich mit sich, dass einzelne durch besondere Fähigkeiten auf dem einen oder anderen Gebiet auffielen. Sie hoben sich von anderen ab, was sie selbst durch besondere Kleidung oder durch Schmuck unterstrichen. Die soziale Struktur der Gruppen war vielschichtiger geworden, wodurch sich auch das Bedürfnis nach Kommunikation entwickelte. Immer mehr Lautkombinationen und ganze Lautfolgen wurden für die Bezeichnung der Dinge und Sachverhalte benötigt. In diesem Kontext entwickelten sich die geistigen Fähigkeiten des Homo erectus weiter, auch physische Veränderungen zur besseren Lautbildung, wie die Absenkung des Kehlkopfes, vollzogen sich.

Der Homo ergaster wie auch der Homo erectus existierten rund eine Millionen Jahre. In dieser langen Zeitspanne entstanden immer wieder Gruppen, die sich durch besondere Merkmale und Eigenschaften auszeichneten. Waren sie sich im Überlebenskampf erfolgreich, dann breitete sich ihre Population aus, so dass einige von ihnen zu eigenständigen Arten avancierten. Besondere Bedeutung für die Herausbildung des modernen Menschen erlangte der Homo heidelbergensis, der vor rund 800.000 Jahren in Afrika in Erscheinung trat. Er war ein muskulöser Jäger, der mit seinen hölzernen Wurfspeeren auch größere Tiere erlegte. Sein großes Gehirn deutet darauf hin, dass er über ausgeprägte Sinne verfügte, die ihm bei der Jagd aber auch beim Schutz vor gefährlichen Raubtieren gute Dienste leisteten. Auf ihren Streifzügen gelangten Gruppen dieser Spezies nach Europa und Asien, andere blieben in Afrika. Die Gruppen, die nach Europa kamen, fanden ausreichend Wild vor. Außerdem gab es dort deutlich weniger krankmachende Insekten, die in manchen Teilen Afrikas das Leben nahezu unmöglich gemacht hatten. Dafür mussten im Norden Klimaschwankungen mit wiederkehrenden Perioden lebensfeindlicher Kälte in Kauf genommen werden. Die Kälteperioden konnten tödlich sein, nur die stärksten hatten eine Überlebenschance. In dem daraus resultierenden Auswahl- und Anpassungsprozess entstand vor rund 200.000 Jahren die Spezies der Neandertaler.1)

Der Neandertaler war noch muskulöser und stämmiger als seine Vorfahren. Die große Körperkraft gepaart mit ausgeprägten Sinnen ließ ihn zu einem erfolgreichen Großwildjäger werden. Auch seine handwerklichen Fähigkeiten waren beachtlich. Der Neandertaler stellte Werkzeuge, wie Faustkeile, Schaber, Spitzen und längliche Klingen, her, die er dem jeweiligen Verwendungszweck anpasste.2) Er bearbeitete Tierfelle und fertigte daraus Kleidung und Decken, um sich vor der Kälte zu schützen. Außerdem gilt der Neandertaler als Erfinder des Klebstoffs. Er benutzte Birkenpech, um damit Steinspitzen an Speeren zu befestigen. Mit diesen Waffen konnte er sogar Mammuts attackieren. Die Großwildjagd erbrachte viel Fleisch, das er über lange Zeit genießbar halten konnte, hatte er den Kühlschrank doch quasi vor der Haustür. Die Großwildjagd war allerdings auch ein gefährliches Unterfangen, denn aus Verletzungen konnten dauerhafte körperliche Schäden entstehen. Diese insgesamt schwierigen Lebensbedingungen schlugen sich in einer relativ geringen Lebenserwartung der Neandertaler nieder. Daher waren die sozialen Gruppen, in denen sie lebten, eher klein. Sie beschränkten sich meist auf die engere Familie.

In Afrika ging aus dem Homo heidelbergensis ebenfalls eine neue Art hervor, der Homo sapiens. Auch er hatte mit den Unbilden der Natur zu kämpfen. In Afrika waren es wiederkehrende Dürreperioden, die dazu führten, dass nur diejenigen eine Überlebenschance besaßen, die in der Lage waren, ausreichend tierische Nahrung zu erbeuten. In der Savanne war dazu allerdings nicht so sehr ein Zuwachs an körperlicher Kraft gefragt, als vielmehr eine weitere Verbesserung der läuferischen Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund griffen genetische Veränderungen Raum, die den Homo sapiens zu einem überaus ausdauernden Läufer werden ließen.3) Er war in der Lage, Wild bis zur Erschöpfung zu hetzen. Außerdem war er gewitzt genug, sich im vorhinein Depots mit Wasser und Nahrung anzulegen, die ihm bei langen Verfolgungsjagden halfen. Jedenfalls kann man noch heute bei einigen afrikanischen Stämmen ein ähnliches Verhalten beobachten. Ausdauer und geistige Flexibilität waren aber nicht nur für die Jagd von Bedeutung, sie waren auch wichtige Voraussetzungen, um anderen Jägern, wie schnellen und wendigen Raubkatzen, zu entkommen. Mitunter war es erforderlich, blitzschnell auf eine gefahrvolle Situation zu reagieren, um sein Leben zu retten. Seine geistige Beweglichkeit verhalf den Homo sapiens auch zu neuen Ideen für die Verbesserung der Waffen und Werkzeuge. Darin waren sie ihren Vettern im kalten Europa voraus. Gemeinsam war ihnen der Drang zur Wanderschaft, der aus der stetigen Suche nach jagdbarem Wild erwuchs. Während die Neandertaler dabei weite Teile Asiens erkundeten, verbreiteten sich die Homo sapiens über den afrikanischen Kontinent, bevor sie vor rund 125.000 Jahren in den Nahen Osten vordrangen. Von dort verschlug es sie nach Asien, Australien und nach Europa, wo sie Gebiete, aus denen andere Menchenarten verschwunden waren, besetzten.

Wieso aber konnten die Homo sapiens während der Eiszeit nach Europa einwandern und dort überleben, obwohl sie als Afrikaner doch eigentlich nicht für dieses Klima geschaffen waren? Und wieso überlebten die Neandertaler, die doch eigentlich perfekt den klimatischen Bedingungen angepasst sein sollten, diese Zeit nicht? Die Neandertaler waren zwar gut an die rauen klimatischen Verhältnisse des Nordens angepasst, trotzdem machten ihnen die Klimaschwankungen und vor allem die drastischen Kälteeinbrüche schwer zu schaffen. Sie waren kräftige Jäger, aber ihre Muskeln wie auch ihr großes Gehirn verbrauchten viel Energie. Wurde die Jagd schwieriger, weil Teile des Wilds einen Kälteeinbruch nicht überlebt hatten oder davongezogen waren, dann wurde es auch für die Neandertaler eng. Ihre Energiebasis und damit auch ihre Überlebenschancen schwanden dahin. Immer wieder wurde die Population dezimiert und in einzelnen Gebieten sogar gänzlich ausgelöscht. Man geht davon aus, dass selbst in besten Zeiten höchstens 70.000 ihrer Art in den Weiten des Nordens von Spanien bis Sibirien unterwegs waren.2) In schlechten Zeiten mögen es deutlich weniger gewesen sein, die in kleinen Gruppen und mit wenig Kontakt untereinander umherzogen. Unter solchen Umständen konnte schon das unglückliche Aufeinandertreffen mehrerer lebensfeindlicher Faktoren zum Erlöschen der gesamten Population führen. Dies war offensichtlich vor rund 39.000 Jahren der Fall.

Aber da ist immer noch die Frage, wieso die Homo sapiens dort überleben konnten, wo die Neandertaler ausstarben. Während die Neandertaler für die Großwildjagd starke Muskeln und scharfe Sinne entwickelt hatten, die viel Energie verbrauchten, besaßen die Homo sapiens als ausdauernde Läufer einen eher schmalen Körperbau, der deutlich weniger Energie benötigte. Sie waren zur Deckung ihres Bedarfs nicht auf die Großwildjagd angewiesen. Kleinere Tiere, ergänzt durch pflanzliche Kost, konnten durchaus ihren Energiehunger stillen. Allerdings, wer weniger verbrennt, produziert auch weniger Wärme und friert schneller. Diesen Nachteil glichen die Homo sapiens durch bessere Kleidung aus. Außerdem beherrschten sie das Feuer perfekt. Sie nutzten es nicht nur als Wärmequelle sondern auch zur vielfältigen Aufbereitung der Nahrung. Es wurde nicht nur Fleisch gegart, auch Pflanzen und deren Früchte, darunter solche, die sonst nur schlecht oder gar nicht für die Ernährung nutzbar waren, konnten zubereitet werden. Und sie brachten Neuerungen, wie die Gärung, mit, so dass die Kost alternativreicher wurde, mitunter wohl auch berauschend war. Insgesamt verhalf ihnen ihre geistige Beweglichkeit zu Vorteilen im Überlebenskampf.

Waren die Homo sapiens intelligenter als die Neandertaler, obwohl ihr Gehirn doch offensichtlich kleiner war? Das geistige Potenzial einer Art wird im wesentlichen aus zwei Quellen gespeist, aus den Fähigkeiten zur Gewinnung und Verarbeitung von Informationen und aus dem zugänglichen Fundus an Erfahrungen. Grundlage für geistige Prozesse sind die aus der Umwelt gewonnenen Informationen. Mag sein, dass die Neandertaler leichte Vorteile ob der Schärfe ihrer Sinne besaßen, doch in Bezug auf die ihnen möglichen Wahrnehmungen sollten die Gemeinsamkeiten der Arten überwogen haben. Auch die Art und Weise mit der Informationen verarbeitet werden, das Vermögen zur Abstraktion und Kombination, ist bei beiden Arten wohl ähnlich ausgeprägt gewesen. Höhlenmalereien zeugen jedenfalls davon, dass auch die Neandertaler durchaus über diese Fähigkeiten verfügten. Gleiches gilt für die grundsätzliche Fähigkeit zur Speicherung und Weitergabe von Erfahrungen. Wenn sie sich in ihren geistigen Fähigkeiten aber so wenig unterschieden, worin war dann die intellektuelle Überlegenheit der Homo sapiens begründet?

Der entscheidende Unterschied zwischen den Arten entstand durch die sozialen Verbünde, in denen sie lebten. Die Neandertaler zogen in kleinen, auf die engere Familie beschränkten Gruppen durch die Lande, wobei sie nur selten auf ihresgleichen trafen. In diesen, auf die gemeinsame Jagd fokussierten Gemeinschaften entstanden wenig Anreize zur Entwicklung der Kommunikation. Die Gruppen der Homo sapiens waren dagegen immer größer geworden, nicht zuletzt, weil die gesamte Population wuchs. Dieses Wachstum fußte auf einer breiteren Ernährungsbasis, die eine schnellere Geburtenfolge ermöglichte. Außerdem nahm die Lebenserwartung der Individuen zu, vor allem weil sie sich besser zu schützen vermochten und weil sie nicht auf die gefährliche Großwildjagd angewiesen waren. In den größer werdenden Gemeinschaften fanden sich naturgemäss auch öfter Individuen, die über besondere Fähigkeiten verfügten und die mit ihren Kenntnissen den Erfahrungsschatz der Gemeinschaft in besonderem Maße bereicherten. Damit diese Erfahrungen dauerhaft die Lebensgrundlagen stärken konnten, mussten sie in den Gemeinschaften bewahrt, das heißt weitergegeben werden. Dadurch entstanden Anreize zur Entwicklung der Kommunikation, die ihrerseits den sozialen Zusammenhalt stärkte. Der stetig wachsende Schatz an Erfahrungen wurde zum entscheidenden Vorteil des Homo sapiens. Mit ihm konnte er auch dort überleben, wo andere Arten der Gattung Mensch keine Chance hatten. Ob er selbst beim Untergang anderer nachgeholfen hat, ist nicht erwiesen. Fakt ist aber, dass der Homo sapiens zur einzig verbliebenen Art der Gattung Mensch avancierte. Er wurde zum „modernen“ Menschen.

zuletzt geändert: 02.10.2019

Quellen:

1) Der Neandertaler, GEO kompakt Nr. 41, 2014 – Der dort skizzierte Stammbaum des Menschen wurde hier zugrundegelegt. Es sei darauf verwiesen, dass auch andere Modelle diskutiert werden.

2) Josef H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung

3) Ulrich Bahnsen, Familie Mensch, Die Zeit Nr. 39/2016 vom 15.09.2016

Quelle Artikelbild – Ausschnitt aus der Bemalung der Sixtinischen Kapelle in Rom, Michelangelo

 

Gemeinsam sind wir nicht allein

Elefanten

Die Straße scheint ja gerade noch breit genug zu sein, damit alle schön nebeneinander laufen können. Die Großen am Rand schützen die Flanken. Die Kleinen sind mittendrin, wohlbehütet. Auf diese Weise ist die Gruppe sicher. Anscheinend hat ihnen aber niemand gesagt, dass sie auch auf Autos achten sollten. Die Evolution hat nämlich irgendwann fahrende Blechschüsseln hervorgebracht, die nun die Wege unsicher machen. Das Überleben wird immer schwieriger, nicht nur für Elefanten.

Im Laufe der Evolution wuchsen die Möglichkeiten der Tiere, verschiedenartige Informationen in einen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Dazu werden die Informationen, die die Sinneszellen über die Außenwelt liefern, mit Erfahrungen abgeglichen und bewertet. Die Bewertungen spiegeln sich in Gefühlen wider, mit denen die Informationen in die Prioritätenfindung eingehen. Außerdem kommen Informationen über die eigene Befindlichkeit hinzu, denn auch Hunger, Durst oder Müdigkeit können das Verhalten beeinflussen, Krankheiten oder Schmerzen die körperlichen Möglichkeiten beschränken. Ein Reh mit einem verletzten Lauf hat keine Chance dem Wolf durch Flucht zu entkommen. Seine Entscheidung kann nur darin bestehen, sich zu verstecken und zu hoffen, dass Isegrimm nicht aufmerksam wird. Will sich das Reh verstecken, muss es eine Vorstellung von sich selbst haben. Größe und Fellfarbe müssen mit dem gewählten Versteck harmonisieren, damit es dem geübten Auge des Räubers entgeht. Mag sein, dass in diesem Fall die Kriterien für ein Versteck nicht aus der Selbstreflexion des Rehs erwachsen, sondern instinkthaft vorhanden sind. Mit der Zeit gewannen die Tiere jedoch immer mehr Fähigkeiten, die nur sinnvoll eingesetzt werden konnten, wenn auch eine Vorstellung von der eigenen Verfasstheit vorhanden war. Ist der Arm zu kurz, um an das Leckerli zu gelangen, wird sich das Äffchen nach mehreren nutzlosen Versuchen womöglich ein Stöckchen nehmen und sich mit dessen Hilfe den Happen angeln. Damit hat es etwas über seine körperliche Begrenztheit erfahren und gleichzeitig sein Verhalten darauf eingestellt.

Die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten gewinnt in einer Gruppe besondere Bedeutung. Eine Gruppe, ein sozialer Verbund, funktioniert nur, wenn jeder seine Stellung und seine Aufgaben kennt und entsprechend handelt. Das Kennen der eigenen Aufgaben schließt ein, dass man eine Vorstellung davon hat, welche Stellung die anderen im Verbund innehaben. Dazu muss man sie auseinanderhalten, das heißt man muss die anderen anhand physischer Besonderheiten, wie Geschlecht, Alter und Körpergröße oder auch nach ihrem Geruch, dem Klang ihrer Stimme oder anderen Merkmalen unterscheiden. Wenn man die anderen unterscheiden kann, dann entsteht das Bedürfnis, auch sich selbst von anderen, zum Beispiel über physische Besonderheiten, abzugrenzen. Einige Tierarten haben darüber hinaus eine recht differenzierte Vorstellung von ihrem eigenen Abbild entwickelt, so dass sie ihr Spielbild erkennen. Dieses visuelle Erkennen führt zu einer Bewertung des eigenen Bildes, und sei es drum, dass da ein ärgerlicher Fleck auf dem Federkleid ist, der da nicht hingehört. Neben äußeren Merkmalen spielt auch die Körperkraft eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung der Akteure. Sie kann für die Stellung in der Gruppe sogar entscheidend sein, denn der stärkste wird Chef, dem alle anderen Gehorsam schulden. Auf diese Weise bildet sich eine Hierarchie heraus, die zu einem wichtigen Merkmal des Lebens der Gruppe wird. Sie hilft, das erforderliche Zusammenwirken zu sichern, außerdem befördert sie die natürliche Auslese, da es dem Chef vorbehalten ist, seine Gene weiterzugeben.

Die Entstehung sozialer Gruppen ist eng mit der Entstehung des Gedächtnisses und der Herausbildung von Entscheidungsprozessen verbunden. In diesem Sinne sind Fischschwärme oder Insektenstaaten keine sozialen Gruppen. Ihr Verhalten wird durch ererbte Automatismen des Handelns bestimmt, eine Bewertung von Situationen oder Verhaltensweisen findet nicht statt. Dinosaurier waren dagegen bereits in der Lage, komplexe Situationen zu erfassen und Entscheidungen zu Handlungsalternativen herbeizuführen. Die soziale Struktur ihrer Gruppen war zwar, soweit man weiß, gering ausgeprägt, trotzdem verschaffte ihnen die Gemeinschaft Vorteile im Überlebenskampf. Mit der Gruppe fand man schneller Wasser oder Nahrung beziehungsweise man konnte sich wirksamer gegen Angreifer verteidigen. Um die Vorteile, die eine Gemeinschaft bieten kann, auszuschöpfen, mussten sich die Akteure irgendwie untereinander verständigen, das heißt, Mittel zur Kommunikation entwickeln.

Nach der großen Katastrophe und dem Untergang der Dinosaurier traten Säugetiere und Vögel deren Erbe an. Vögel bilden sehr unterschiedliche Zweckbünde. Wir beobachten zeitweise oder dauerhafte Brutpaare genauso wie Fluggemeinschaften in entfernte Weltengegenden oder Gruppen, die in einem gemeinsamen Lebensraum den Nachwuchs behüten. Hierarchien spielen in diesen Gemeinschaften kaum eine Rolle. Das sieht bei den Säugetieren anders aus. Zwar sind die sozialen Gruppen der Säugetiere ebenfalls vielgestaltig, es entstanden kleine Familienverbände genauso wie große Herden, aber eine Rangordnung ist in ihnen die Regel. Zum Anführer einer Herde schwingen sich meist die stärksten Tiere auf, mitunter auch die klügsten. Sie stehen für eine längere Zeit an der Spitze der Hierarchie. Wenn es dagegen in Vogelschwärmen notwendig wird, dass ein Tier die Führungsrolle übernimmt, dann wechseln sich die Tiere in dieser Aufgabe ab. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass die Verantwortung der Entscheidungsfindung an den Anführer abgegeben wird, obwohl jedes einzelne Tier fähig wäre, Entscheidungen zu treffen. Sehr eindrucksvoll lässt sich dies bei Pferden beobachten, die am liebsten blind dem Leittier folgen. Signalisiert dieses eine Gefahr, rennen alle los, als wären sie selbst gerade gebissen worden. Herdentrieb soll allerdings auch bei Menschen schon beobachtet worden sein.

Mit der Zunahme der geistigen Fähigkeiten wurden auch die sozialen Beziehungen in den Gruppen vielschichtiger. Das Zusammenleben basierte nun nicht mehr nur auf der Unterordnung unter ein Leittier, es bildeten sich darüber hinaus unterschiedlich gefärbte Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aus. In solchen Gruppen werden die einzelnen von den anderen nicht nur erkannt, sondern ihnen wird unabhängig von der Rangstellung auch eine Bewertung beigegeben. Diese Bewertung drückt sich in einem Gefühl aus, das mit dem jeweiligen Individuum verbunden wird und dadurch das Verhalten zu ihm beeinflusst. Mit einigen pflegt man engeren Kontakt, weil man sie mag, anderen geht man lieber aus dem Wege. Die Bewertung, die dem einzelnen beigegeben wird, kann durch die eigene Lebenserfahrung, durch Vorlieben oder auch durch besondere Erlebnisse beeinflusst sein. Hat jemand in einer schwierigen Situation geholfen oder Schutz gewährt, dann wird dieses Erlebnis die Beziehung des Betreffenden zum Helfer prägen. Das damit verbundene Gefühl könnte man als Dankbarkeit beschreiben. Aber auch Zorn über erfahrene Nichtachtung, Neid auf den Erfolg des anderen oder Abscheu als Ausdruck völliger Ablehnung können solche besonderen Beziehungen ausdrücken. Die Einschätzung, die mit anderen verbunden wird, ist aber nicht nur durch eigene Erlebnisse bestimmt, denn auch andere haben Erfahrungen mit diesem und jenem, die sie nur allzu gern weitergeben. Die Weitergabe einer Bewertung kann bereits durch das Verhalten dem Betreffenden gegenüber erfolgen, da es von anderen beobachtet wird. Umgekehrt, lassen sich aus dem Verhalten der anderen Schlüsse zur eigenen Stellung in der Gruppe ziehen. Bewertungen werden aber auch auf direktem Wege kommuniziert, zumal auf diese Weise gezielt Einfluss auf das Verhalten der Gruppe genommen werden kann.

Wahrscheinlich sind die nach und nach erreichten Fortschritte in der Kommunikation auf die Erfordernisse des Zusammenlebens zurückzuführen, manche sind allerdings der Meinung, dass der Drang nach Klatsch und Tratsch dafür entscheidend war. Wie dem auch sei, die Mittel zur Kommunikation wurden im Laufe der Evolution vielfältiger. Begonnen hatte alles mit Botenstoffen, die bereits von den Einzellern genutzt wurden, um Kollonien zu bilden. Botenstoffe sind auch für Pflanzen das vorherrschende Kommunikationsmittel. Tiere können sich darüber hinaus durch Bewegungen verständigen. Bei Bienen beobachtet man zum Beispiel, dass sie sich mit einem „Tanz“ auf Nahrungsfundorte aufmerksam machen. Diese Kommunikation beruht darauf, dass ein bestimmtes Verhalten mit einer festgelegten Bedeutung verbunden ist. Diese Bedeutung muss die Biene nicht erlernen, dieses „Wissen“ ist in ihren Genen verankert.

Den Tieren, die auf im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen zurückgreifen können, eröffneten sich neue Möglichkeiten, was nicht heißt, dass auf bereits bewährte Mittel der Kommunikation verzichtet wurde. Botenstoffe werden zum Beispiel weiterhin genutzt, um bestimmte körperliche Dispositionen zu signalisieren. Ist der Körper der Hirschkuh zur Empfängnis bereit, setzt er einen Stoff frei, der, so er vom König des Waldes registriert wird, bei diesem Paarungsdrang auslöst. Auch Bewegungen, die instinktiv verstanden werden, bleiben im Repertoire. Dass das Schwanzwedeln mit erhobener Rute eine freudige Erregung ausdrückt, braucht der junge Hund nicht zu lernen, es gehört zu seinem ererbten Wissen. Dass der aufgestellte Schwanz der Katze nichts mit freudiger Erwartung zu tun hat, kann er dagegen nur schwerlich begreifen. Schmerzhafte Erfahrungen werden ihn lehren, solchen Tieren tunlichst aus dem Weg zu gehen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses erlangt die Kommunikation jedoch größere Flexibilität, da die Laute und Gesten wie auch die Körpersprache und die Mimik nun je nach Situation variiert werden konnten. Diese Flexibilität hatte aber einen Preis, denn die Bedeutung der immer vielfältiger gewordenen Laute und Gesten konnte nicht mehr vererbt werden, man musste sie erlernen.

Das Lernen, das heißt die Übernahme von Erfahrungen und Wissen, gewann für das Leben der Gemeinschaften insgesamt größere Bedeutung. Lernen kann man zum Beispiel durch das Nachahmen von Handlungen. Sieht die junge Katze, wie die Mutter eine Maus jagd, wird sie versuchen, es ihr nachzutun. Mit dem Nachahmen entsteht eine eigene Erfahrung, die vom Gedächtnis bewahrt wird. Erfahrungen können auch durch das gezielte Vorspielen eines Geschehens weitergegeben werden. Auf diese Weise kann für den Lernenden das gute Gefühl des Erfolgs einer Handlung wie auch das unangenehme einer Niederlage erfahrbar werden, auch wenn er selbst nicht am Geschehen beteiligt war. Im Alltag kann man das erforderliche oder erwartete Verhalten allerdings nicht jedes Mal vormachen, um jemanden zu einer entsprechenden Handlung zu bewegen. Die dafür notwendige Zeit wäre schlicht nicht vorhanden. Für die Verständigung zu den täglichen Anforderungen und Notwendigkeiten braucht man Signale, die ein bestimmtes Verhalten einfordern. Diese Signale muss man kennen, also irgendwann erlernt haben, damit sie abgerufen werden können. Einen Hund kann man zum Beispiel trainieren, dass er Befehle in Form von Lautfolgen oder Gesten erkennt und das erwartete Verhalten abliefert. Das ist möglich, weil die Fähigkeit, Zeichengebungen oder Laute mit einem bestimmten Verhalten zu verbinden, in der Natur des Hundes angelegt ist. Sie spielt offensichtlich auch bei der Kommunikation im Rudel eine Rolle.

Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben des einzelnen wuchs auch der Stellenwert der sozialen Beziehungen für die Beurteilung einer Situation. Die sozialen Beziehungen wurden neben der natürlichen Umwelt und dem eigenen Körper zur dritten Wirklichkeit, mit der man sich bei seinen Entscheidungen auseinandersetzen musste. Welch hohen Stellenwert die Gruppe für den einzelnen haben kann, lässt sich bei Menschenaffen sehr gut beobachten. Ähnliches gilt sicher auch für unsere Vorfahren, deren Entwicklung nicht nur durch die Fertigung von immer besseren Werkzeugen und eine beginnende Arbeitsteilung gekennzeichnet war, sondern auch durch die zunehmende Vielfalt, mit der sie untereinander kommunizierten. Parallel dazu wurden die sozialen Beziehungen in ihren Gemeinschaften vielschichtiger. Sie waren nun häufig von Sympathien oder Antipathien geprägt, so dass gleiche Ereignisse eine unterschiedliche Bewertung erfahren konnten, abhängig davon, wen sie betrafen. Das Missgeschick eines anderen konnte Mitgefühl auslösen, wenn dieser andere zu den Freunden zählte, oder Schadenfreude, wenn dies eher nicht der Fall war. Der Verlust eines Nahestehenden war ein schmerzliches Ereignis, der Tod eines Gegners wurde möglicherweise als Triumph empfunden.

Die sozialen Beziehungen nehmen auch auf die Gefühle, die mit der Reflexion eigener  Entscheidungen verknüpft sind, Einfluss. Eine solche Reflexion kann beispielsweise Zufriedenheit oder Ärger, vielleicht auch Bedauern auslösen. Mit „Bedauern“ wird ein Gefühl bezeichnet, das aus einem Misserfolg resultiert und zur Infragestellung der vorausgegangenen Entscheidung führt. Damit kann es einen Lernprozess befördern. Falls die Handlung nicht nur kein Erfolg war, sondern sogar Nachteile brachte, dann kann es sein, dass es nicht bei dem Bedauern bleibt, sondern dass auch „Ärger“ entsteht. Das heißt, das Gefühl fällt stärker aus, so dass nicht nur die Entscheidung in Frage gestellt wird, sondern die Zweifel auch auf den Entscheider zurückfallen. Falls noch jemand anderes Einfluss auf die Entscheidung genommen hatte und so den Misserfolg mitbegründete, richtet sich der Ärger oder Zorn womöglich gegen diesen. Stellte sich eine eigene Entscheidung, die andere Mitglieder der Gruppe betraf, als falsch heraus, dann wird dies meist als peinlich empfunden. Diese Pein ist ein starkes Gefühl, weil mit einem solchen Fehler die eigene Stellung in der Gruppe untergraben werden kann. Noch gravierender ist es, wenn man die Versehrtheit oder den Tod eines anderen verursacht. Diese Schuld verlangt Sühne. Aus ihr kann ein Konflikt, der die gesamte Gruppe betrifft, erwachsen.

Mit der Herausbildung eines vielschichtigen Geflechts sozialer Beziehungen entstand auch die Möglichkeit, dass nicht der Stärkste oder Geschickteste zum Anführer wurde, sondern dass insgeheim geschmiedete Bündnisse die Macht eroberten. Die Intrige trat ins Leben. Eine ihrer Besonderheiten besteht darin, dass nicht Sympathie das Kriterium für die Auswahl der Bündnispartner ist, sondern ein Kalkül, das auf Machtzuwachs zielt. Macht sichert den Zugang zur besten Nahrung und sie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Verbreitung des eigenen Samens. Sie ist mit guten Gefühlen verbunden, weshalb jedes Mittel recht erscheint, ein solches Bündnis zu schmieden. Dazu werden schon mal Pläne der anderen ausspioniert, eigene Chancen übertrieben oder Rivalen verleumdet. Die wachsenden geistigen Fähigkeiten zielten also bereits bei unseren Vorfahren nicht immer auf Nutz und Frommen der Gemeinschaft. Immerhin, die machtgierigen Ränkeschmiede bildeten auch bei ihnen nur einen Teil der Gruppe, ein anderer versuchte Streit zu schlichten und ein friedliches Miteinander zu bewahren.

zuletzt geändert: 10.09.2019

Bild: green-tiger.de

Was ist „Bewusstsein“?

wolf

Als ich dieses Bild sah, habe ich mich gefragt, ob dieser Hund gerade den Sonnenuntergang genießt und dabei so etwas wie eine romantische Stimmung verspürt. Na ja, vielleicht ist das zu „menschlich“ gedacht. Wie ist das aber mit dem Bewusstsein? Haben Tiere ein Bewusstsein und was ist „Bewusstsein“ überhaupt? Tragen wir dazu noch einmal zusammen, was wir zu den Prozessen der Informationsgewinnung und -verarbeitung herausgearbeitet haben.

Wir hatten unsere Überlegungen über die Welt mit den Wahrnehmungen begonnen. Beim Nachdenken darüber, wie unsere Sinne funktionieren, war klar geworden, dass sie uns auf verschiedene Weise Informationen zu Strukturen und Bewegungen in unserer Umwelt vermitteln. Die sinnlichen Attribute dieser Wahrnehmungen, wie Helligkeit, Farben, Geräusche, Geschmack oder Geruch, sind keine Eigenschaften dieser Strukturen und Bewegungen sondern Imaginationen des Gehirns, die uns helfen sollen, eine Situation schnell zu bewerten und daraus die erforderlichen Schlüsse hinsichtlich der Prioritäten des Handelns zu ziehen. Die Sinnesorgane, die uns die Informationen über die Umwelt liefern, sind in aller Regel in oder auf der Außenhaut platziert. Sie registrieren das Auftreffen von Atomen und Molekülen, die sie durch ihre Struktur oder durch die von ihnen ausgehenden Wirkungen unterscheiden. Andere Sinneszellen können von außen kommende Energie, also Bewegungen registrieren, die als Licht, als Schall oder als Druck daherkommen. Die jeweilige Sinneszelle löst daraufhin einen elektrischen Impuls aus, der an das Gehirn weitergeleitet wird. Der elektrisch Impuls selbst ist „neutral“, soll heißen, er trägt keine Angaben über die Art der Information, die ihn auslöste, insich. Die Differenziertheit der Informationen wird dadurch bewahrt, dass die Impulse der einzelnen Sinneszellen jeweils spezielle neuronale Strukturen im Gehirn ansprechen. Jede einzelne Sinneszelle liefert dabei nur einen Impuls, der eine festgelegte Nervenzelle im Gehirn aktiviert. Da dies viele Sinneszellen gleichzeitig tun, kommt die Information in Form einer Impulsstruktur im Gehirn an, wo sie ihre Entsprechung in den von ihnen aktivierten Neuronen findet. Die Struktur aktivierter Neuronen wird mit den neuronalen Strukturen, in denen die Erfahrungen gespeichert sind, nach Übereinstimmungen abgeglichen. Auf die Erfahrung, mit der die meisten Übereinstimmungen festgestellt werden, wird sich die aktuelle Information nun beziehen. Ihre neuronalen Netze verbinden sich, wodurch die der Erfahrung anheftende Bewertung auf die neue Information übergeht. Damit erhält die neue Information einen Sinn. Gleichzeitig wird das der Erfahrung ebenfalls anheftende Verhaltensmuster aktiviert.

Mitunter löst eine Information unmittelbar eine Aktion aus. Dann spricht man von Reflexen. Diese sind bereits in einer frühen Phase der Evolution entstanden und betreffen meist grundlegende Lebensprozesse. Für Cyanobakterien war es schon vor Urzeiten wichtig, das lebensspendende Sonnenlicht zu erkennen. Nur mit seiner Hilfe konnte die Photosynthese gelingen. Trifft dieses Licht auf einen entsprechenden Sensor der äußeren Hülle, so setzt dieser einen Botenstoff frei, der ein vorherbestimmtes Verhalten, hier die Bewegung hin zum Licht, hervorruft. Eine vorherige Bewertung der Information ist nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Auf ähnliche Weise orientieren viele Pflanzen ihr Wachstum zum Licht. Wie das Licht das „Verhalten“ einer Pflanze beeinflusst, zeigt uns die Sonnenblume sehr eindrucksvoll. Sie schaut immer zum großen Lichtspender, obwohl dieser im Laufe des Tages seinen Platz am Firmament ändert. Die Sonnenblume muss dazu keine Entscheidung treffen, dieses Verhalten ist in ihrem Erbgut angelegt.

Eine ähnliche direkte Verknüpfung von Impuls und Verhalten findet man bei Insekten. So ist es unwahrscheinlich, dass ein Käfer das Gelb einer Blüte „sieht“ und sie deshalb in Erwartung süßen Nektars zielgerichtet ansteuert. Er registriert vielmehr Licht eines bestimmten Frequenzbereichs, das sein Verhalten auslöst. Darüber muss er nicht nachdenken, es geschieht eben. Vor diesem Hintergrund wird auch die Funktionsweise der Facettenaugen, die ein Merkmal vieler Insekten sind, verständlich. Diese Augen liefern kein ganzheitliches Bild als Grundlage für eine Entscheidung, sie sammeln vielmehr Informationen über Lichtreflexionen und deren Veränderung, die dann zur Grundlage ihrer Reaktionen respektive Bewegungen werden. Auf diese Weise orten sie auch „gelbe“ Blüten und steuern diese an. Werden plötzliche Veränderungen in der Reflexion des Lichts registriert, so kann dies ein Zeichen für Gefahr sein, weswegen diese Information umgehend ein Fluchtverhalten auslöst. Es ist verdammt schwierig, eine Fliege zu erwischen, denn sie kann selbst hinterhältigen Angriffen zuvorkommen. Zwar „sieht“ sie den Angreifer nicht, sie registriert jedoch die mit seiner Bewegung verbundene Veränderung des Lichts, und dies beinahe im Rundumblick. Diese Information löst augenblicklich ihre Flucht aus.

Mit der Herausbildung von Entscheidungsprozessen auf der Basis gespeicherter Erfahrungen wurde vieles anders. Die direkte Verknüpfung von Impulsen mit einem bestimmten Verhalten wurde zwar nicht völlig aufgegeben, aber ein größer werdender Teil der Informationen muss nun erst verarbeitet und in einen Entscheidungsprozess einbezogen werden, bevor eine Handlung ausgelöst wird. Nicht zu vergessen, dass sich auch die Sinne zu komplexen Organen weiterentwickelten, die teilweise verschiedenartige Sensorzellen vereinen und dadurch eine Vielzahl von Informationen zu unterschiedlichen Aspekten der Wirklichkeit liefern. Die vielfältig entstehenden Einzelinformationen müssen miteinander kombiniert und mit Erfahrungen abgeglichen werden, damit ihnen einen Sinn gegeben werden kann. So werden zum Beispiel die von den Augen registrierten Lichtpunkte derart kombiniert, dass sich Formen bilden, die sich mit Hilfe der Erfahrungen identifizieren lassen. Im nächsten Schritt wird das auf diese Weise entstehende Bild weiterbearbeitet, zum Beispiel indem die Konturen der Objekte schärfer von der Umwelt abgegrenzt werden. Außerdem sind die Abstände zu anderen Objekten zu erfassen, damit die Orientierung im Raum möglich wird.

Mit dem Entscheidungsprozess hatte sich noch etwas anderes verändert. War bislang nur der jeweilige Reiz die Information, so ist für die komplexe Beurteilung einer Situation auch das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang. Folglich müssen beide Möglichkeiten, das Vorhandensein wie auch das Fehlen eines bestimmten Reizes, als Information in die Entscheidungsfindung eingehen. Dazu werden sie durch unterschiedliche Wahrnehmungsmuster voneinander abgegrenzt. Für das Licht heißt das, dass das Vorhandensein des Impulses als „hell“ registriert wird, das Fehlen als „dunkel“. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Intensität der Reize durch Abstufungen von hell und dunkel wiedergegeben werden. Die Informationen, die die Zapfen des Auges liefern, sind allerdings in drei Frequenzbereiche aufgeteilt, so dass eine alternative Wiedergabe nach dem Muster „entweder/oder“ nicht möglich ist. Hier verrechnet das Gehirn die Anteile der verschiedenen „Farbinformationen“ zu einem Mittelwert, dem dann ein Farbeindruck zugeordnet wird. Demnach gibt es zwei unterschiedliche Verfahren, wie den Informationen Wahrnehmungsmuster beigegeben werden. Zum einen werden sie mit Hilfe eines Gegensatzes gebildet, zum anderen können sie aus der Verrechnung unterschiedlicher Werte zu einem Mittelwert resultieren. Am Ende entsteht ein komplexes Bild, in dem die einzelnen Aspekte durch die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster unterscheidbar bleiben.

Wahrnehmungsmuster bildeten sich nicht nur für visuelle Reize sondern für alle Sinne aus. Sie sind Bestandteil der Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde, die dazu nach Sinnerorganen spezialisierte Areale ausbildete. In ihnen sind auch die mit den einzelnen Sinnen verbundenen Erfahrungen gespeichert. Die Wahrnehmungsmuster selbst könnte man vielleicht als neuronale Schablonen begreifen, in die die aktuellen Informationen, respektive die sie tragenden neuronalen Strukturen, eingefügt werden. Die den einzelnen Sinnen zugeordneten Wahrnehmungsmuster sind dabei deutlich voneinander unterschieden. Sie gehören gewissermaßen unterschiedlichen Sphären an, die wir als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen bezeichnen. Innerhalb dieser Sphären oder Wahrnehmungsmuster sind Möglichkeiten für Differenzierungen gegeben, wodurch Aspekte und Details wie Geschmacks- oder Geruchsnuancen, unterschiedliche Töne und Geräusche oder eben Formen, Farben und Helligkeiten unterschieden werden können. Darüber hinaus ist nicht nur für das Sehen das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang, auch bei anderen Sinnen wird das Fehlen des Reizes mit einem Wahrnehmungsmuster belegt. Treffen keine Schallwellen auf das Ohr, entsteht die Wahrnehmung „Ruhe“, treffen Schallwellen auf, dann bedeutet das „Geräusch“. Dieses Geräusch kann mit Hilfe verschiedener Sinneszellen weiter differenziert werden. Die Frequenz der Schallwellen wird in unterschiedlichen Tonhöhen deutlich, ihre Intensität in verschiedenen Lautstärken. Die Töne wechseln sich mit kurzen Ruhepausen ab. Die konkrete Abfolge von Tönen und Pausen lässt Rhytmen entstehen. Im Abgleich mit Erfahrungen kann unter Umständen eine Melodie identifiziert werden.

Zu den Wahrnehmungen, die aus den Impulsen der Sinnesorgane entstehen, kommen Wahrnehmungen den eigenen Körper betreffend hinzu. Das können Wahrnehmungen wie Durst und Hunger sein, die einen Mangel signalisieren, oder Schmerzen, die eine Verletzung und damit eine Gefährdung der körperlichen Möglichkeiten anzeigen. Eine weitere Gruppe von Wahrnehmungen betrifft die Gefühle. Gefühle drücken Bewertungen aus, die den Erfahrungen anheften. Wird eine aktuelle Information identifiziert, indem sie sich mit einer Erfahrung verbindet, wird das mit ihr verbundene Verhaltensmuster aktiviert und eine körperliche Empfindung, ein Gefühl erzeugt. Durch die Wahrnehmung dieses Gefühls fließt die aus der Erfahrung zugeordnete Bewertung in die Entscheidung ein. Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben jedes einzelnen erhielten auch die Informationen, die die Beziehungen in der Gruppe betrafen, ein höherer Stellenwert. Wieder sind es nicht die Informationen selbst, sondern die ihnen auf der Basis von Erfahrungen zugeordneten Gefühle, deren Wahrnehmung in die Entscheidungsfindung einfließt.

Mit den sozialen Beziehungen gewinnt noch ein weiterer Faktor Einfluss auf die Entscheidungen, das Kalkül. Das Kalkül zielt nicht in erster Linie auf die Lösung einer für das Wohl der Gemeinschaft wichtigen Aufgabe, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, die zum eigenen Vorteil gereichen. Dafür braucht man eine Vorstellung davon, worin der eigene Vorteil liegt und wie man ihn erlangen kann. Der erdachte Vorteil muss wiederum mit Gefühlen verknüpft sein, damit der Ränkeschmied voller Motivation ans Werk geht. Aber, woher erhält ein Plan, also etwas, das noch nicht stattgefunden hat, eine Bewertung in Form eines Gefühls? Eine solche Bewertung kann aus Erfahrungen entstehen, die der Planer in einer ähnlichen Situation bereits gesammelt hatte. Vielleicht war er schon einmal der engste Vertraute des Leithammels und will es wieder werden. Bewertungen können aber auch aus Beobachtungen resultieren. Man sieht doch, wie andere ihre Vorteile auskosten, indem sie die ersten an den Futtertrögen oder bei der Verbreitung des eigenen Samens sind.

Es sind also nicht nur viele sondern auch sehr verschiedene Wahrnehmungen respektive Gefühle, die in eine Entscheidung einfließen. Sie müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden, damit eine ganzheitliche Bewertung der Situation entstehen kann. Die dafür erforderliche Gesamtschau vollzieht sich in einem speziellen Areal der Großhirnrinde. Dort werden vermutlich nicht die Informationen mit ihrem gesamten Detailreichtum zusammengeführt, sondern es werden die Ergebnisse der ersten Verarbeitungsstufe, das heißt die Bewertungen, die den verschiedenen Informationen in Form von Gefühlen beigegeben wurden, zueinander in Beziehung gesetzt. Nur, wie kann das Gehirn die Gefühle gegeneinander abwägen und daraus eine Entscheidung ableiten? Eine Möglichkeit besteht darin, den Quellen, aus denen die Informationen stammen, einen unterschiedlichen Stellenwert zuzuordnen. Bei den Primaten ist die Gesamtschau in starkem Maße durch visuelle Quellen geprägt, bei Hunden ist daneben der Geruchssinn von besonderer Bedeutung, Katzen wiederum verlassen sich eher auf das Gehör. Maulwürfe sehen schlecht, ihre Entscheidungen werden durch den Tastsinn und den Geruchssinn geleitet. Auf diese Weise entsteht eine artenspezifische Rangfolge der Informationsquellen, die sich in der Ausprägung der entsprechenden Sinnesorgane widerspiegelt. Die Intensität eines Reizes könnte ein weiteres Bewertungskriterium sein. Ein starker Geruch zeigt die Nähe des wahrgenommenen Objekts an. Wird der Geruch nach einem Abgleich mit Erfahrungen allerdings als harmlos eingestuft, bleibt er für die anstehende Entscheidung bedeutungslos. Ist er einem gefährlichen Räuber zuzuordnen, dann ist höchste Wachsamkeit geboten, selbst wenn der Feind noch nicht gesichtet ward.

Die beiden genannten Kriterien erklären aber noch nicht, wie verschiedene Reize eines Sinnesorgans oder gleichstarke Reize verschiedener Sinne gegeneinander abgewogen werden. Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir uns noch einmal anschauen, wie Gefühle entstehen. Gefühle werden durch Botenstoffe hervorgerufen, die bestimmte Bereiche im Gehirn oder Nervengeflechte im Körper anregen, deren Aktivität als Gefühl wahrgenommen wird. Die Freisetzung der Botenstoffe wird durch Informationen beziehungsweisen von Reizen, die von Sinneszellen ausgehen, ausgelöst. Welche Information beziehungsweise welche Sinneszelle welchen Botenstoff freisetzt, ist im Erbgut verankert. Diese Zuordnung, die auch eine Bewertung beinhaltet, hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet. Mit ihr entstand offensichtlich ein Ranking der Botenstoffe und Gefühle, das die Bedeutung der ihnen zugrundeliegenden Informationen für das Überleben der Art widerspiegelt. Je höher das Ranking eines Botenstoffs ist, umso stärker fließt das von ihm hervorgerufene Gefühl in die Entscheidung ein, wobei die Intensität seiner Ausschüttung verstärkend oder dämpfend wirken kann. Dieses insgesamt bewährte System hat allerdings einen Nachteil, denn auch Stoffe oder Verhaltensweisen, die dem Leben eher schaden, können großen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, wenn sie mit der Ausschüttung von Botenstoffen verbunden sind, die starke angenehme Gefühle bescheren. Zerstörerische Süchte sind mitunter die Folge.

Bei all unseren Überlegungen zu Informationen und Entscheidungen kam der Begriff „Bewusstsein“ nicht vor. Wir brauchten ihn nicht. Die Vorgänge, die mit dem Wort „bewusst“ beschrieben werden, betreffen häufig Prozesse der Informationsverarbeitung, die dem Ziel dienen, die Prioritäten des Handelns zu bestimmen. Dazu müssen die Informationen zueinander in Beziehung gesetzt und mit Erfahrungen abgeglichen werden. Diese Fähigkeit ist, wie wir sahen, in einem langen evolutionären Prozess entstanden und weiterentwickelt worden. Die Besonderheit, die der Mensch diesem Prozess hinzufügte, ist mit der Sprache verbunden, durch die er in die Lage kam, selbst Informationen und damit Gefühle zu erzeugen. Geht die Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen, zum Beispiel in Folge einer schweren Verletzung des Gehirns, verloren, dann setzt ein bewusstloser oder besinnungsloser Zustand ein. Die primären Lebensfunktionen bleiben jedoch erhalten, da sie von den Teilen des Gehirns gesteuert werden, die automatisch, das heißt nach ererbten Mustern und ohne die Notwendigkeit individueller Entscheidungen, funktionieren. Für die Abgrenzung eines bewussten von einem bewusstlosen Zustand ist der Begriff „Bewusstsein“ also sinnvoll, für die Beschreibung der informationsverarbeitenden Prozesse eher weniger.

zuletzt geändert: 16.09.2019

Bild: online-mit-tieren.com

 

Gefühle – was soll das?

tierische Gefühle

Eines der großen Mysterien des Lebens sind die Gefühle. Dem einen bescheren sie eine Hochstimmung, dem anderen quälende Pein. Sie stimulieren oder depremieren, sie belohnen und bestrafen. Und warum das alles?

Letzten Endes geht es darum, das eigene Leben und das Überleben der Art zu sichern. In diesem Zusammenhang erwies es sich als Vorteil, möglichst viele Informationen über die Umwelt zu sammeln und auszuwerten, um das Verhalten auf die konkrete Situation einstellen zu können. Informationen werden in Sensorzellen gewonnen. Die Sensorzelle leitet die Information in Form eines elektrischen Impulses an das Gehirn, wo ein  neuronales Netz angeregt wird. Dieses neuronale Netz löst ein bestimmtes Verhalten aus, indem es die dafür erforderlichen Zellen beziehungsweise Organe aktiviert. Eine solche direkte Verknüpfung einzelner Informationen mit genetisch vorgegebenen Reaktionen war für die ersten Tiere typisch. Sie hat sich bis in unsere Tage für einfache Arten, bis hin zu Krebsen und Insekten, bewährt. Im Laufe der Evolution entstanden jedoch auch Arten, die mit vielfältigen Fähigkeiten ausgestattet waren, so dass sie flexibel auf unterschiedliche äußere Bedingungen reagieren konnten. Dafür musste jedoch die durchgängige Verknüpfung von Informationen mit vorherbestimmten Verhaltensmustern aufgegeben werden.

Für die flexible Reaktion auf unterschiedliche und sich verändernde Bedingungen waren vielfältige Informationen erforderlich, für deren Gewinnung komplexe Sinnesorgane entstanden. Die von ihnen gelieferten Informationen konnten durchaus widersprüchliche Anforderungen an das Verhalten stellen. Da hatte zum Beispiel ein Saurier gerade einen genialen Platz mit frischem Blattwerk für ein opulentes Mahl gefunden, als ihm seine Sinne Informationen lieferten, die auf das Nahen eines räuberischen Zeitgenossen schließen ließen. Sollte er nun weiterfressen oder besser davonlaufen? Mit der Erfahrung, die ihm geholfen hatte, den Räuber zu identifizieren, war auch dessen Einstufung als Gefahr verbunden. Diese Bewertung wurde für ihn als Gefühl, wahrscheinlich als Furcht, erlebbar. Es trieb unseren Saurier in die Flucht, egal wie verlockend das Grünzeug gewesen sein mag. War die Gefahr vorüber, würden wieder andere Gefühle, zum Beispiel aus Hunger oder Durst resultierend, sein Handeln bestimmen, denn auch Nahrungs- und Wassermangel  konnten lebensbedrohlich sein.

Nicht nur Mangelzustände und Gefahren bestimmen das Leben, genauso wichtig ist es, mit der mühsam erlangten Energie hauszuhalten und dem Körper Phasen der Regeneration zu gewähren. Ist der Löwe satt, wird er schläfrig. Das heißt, der volle Magen signalisiert dem Gehirn, dass nach Jagen und Fressen nun eine Pause angezeigt ist. Das Gehirn veranlasst die Ausschüttung entsprechender Botenstoffe und der Löwe legt sich genüsslich in die Sonne. Die Ruhe hat er sich verdient. Im Rudel gibt es jedoch ein paarungsbereites Weibchen, das, statt ihm die Ruhe zu gönnen, um ihn herumschleicht und ihn zu verführen sucht. Welches Gefühl wird siegen – sein Ruhebedürfnis oder die Pflicht, für Nachwuchs zu sorgen? Wahrscheinlich weiß er, was er zu tun hat. Allerdings wird er nicht aus lauter Pflichtgefühl das Seine beisteuern, vielmehr werden die Informationen, die ihm seine Nase über die Löwin vermitteln, ihn geil machen. Dieses Gefühl setzt sich gegen das Ruhebedürfnis durch und der Löwe schreitet zur Tat. Wahrscheinlich wird er für sein Engagement zur Bewahrung der Art mit positiven Gefühlen belohnt. Die in diesem Zusammenhang ausgeschütteten Botenstoffe lassen ihn auch wieder zur Ruhe kommen. Vielleicht kann er ja doch noch ein Schläfchen halten. Zuckerbrot und Peitsche, positive und negative Gefühle treiben ihn an, steuern sein Verhalten. Es sind Gefühle, die Behagen oder Unbehagen auslösen, die angenehm oder unangenehm sind, die er vermeiden will oder von denen er nicht genug bekommen kann. Stimulierend oder bremsend, mehr Gefühl braucht es nicht.

Was sind dann aber Durst, Hunger oder Müdigkeit? Es sind Signale des Körpers, mit denen dieser auf seinen Zustand oder seine Bedürfnisse aufmerksam macht. Es sind Informationen, denen eine Bewertung beigegeben ist, welche als angenehmes oder unangenehmes Gefühl auftritt. Je stärker dieses Gefühl ist, desto heftiger drängt die ihm zugrundeliegende Information in den Vordergrund. Das Unbehagen wegen eines bisschen Hungers wird nicht unbedingt die Handlung prägen, die Pein großen Hungers schon. Sie kann im konkreten Moment jegliches andere Gefühl überlagern. Ähnliches gilt für Schmerzen. Grundlage für den Schmerz sind Informationen von Nervenzellen, die Verletzungen an inneren Organen oder an der Außenhaut signalisieren. Diese Informationen lösen, je nach Art der signalisierten Verletzung, genetisch verankerte körperliche Reaktionen aus. Wahrscheinlich wird das Immunsystem aktiviert und an der verletzten Stelle wird Energie freigesetzt, die die Körpertemperatur erhöht, um Krankheitserreger abzutöten und die Bildung neuer Zellen zu erleichtern. Außerdem löst das Gehirn einen Schmerz aus, der es ermöglicht, die Verletzung zu lokalisieren und ihre Schwere zu erfahren. Das Tier kann nun die Wunde lecken und durch die im Speichel vorhandenen antiseptischen und blutstillenden Stoffe die Heilungschancen verbessern. Außerdem könnte es im Unterholz Schutz suchen. Da Schmerz in hohem Maße unangenehm ist, erzwingt er förmlich eine entsprechende Reaktion.

Selbst dann, wenn ein dominierendes Gefühl ein bestimmtes Verhalten mehr oder weniger erzwingt, sind immer auch andere Gefühle im Spiel, die von anderen Informationen ausgelöst wurden. Ist keines der Gefühle von vornherein dominant, müssen die verschiedenen Gefühle gegeneinander abgewogen werden, um zu einer Entscheidung über die Prioritäten des Handelns zu gelangen. Mit der Entwicklung der Sinnesorgane wurden jedoch immer mehr Informationen zur Verfügung gestellt, so dass eine Überflutung mit Gefühlen drohte, die notwendige Entscheidungen eher verhindern als befördern würde. Die Informationsflut musste irgendwie eingedämmt und kanalisiert werden. Mit anderen Worten, das Großhirn brauchte eine Einlasskontrolle, die alle nicht identifizierbaren, fehlerhaften und minderwertigen Informationen aussonderte und die die Informationen, die lediglich der Steuerung der Bewegungen dienten, direkt ans Kleinhirn verwies. Letzteres gilt vor allem für visuelle Informationen, die im Kleinhirn verarbeitet werden, ohne dass weitergehende Entscheidungen notwendig sind. Nur Informationen, die für die Optimierung des Verhaltens tatsächlich gebraucht werden, sollten Einlass ins Großhirn finden.

In der Einlasskontrolle wird nicht nur der Informationsmüll ausgesondert, es werden auch die Informationen, die passieren dürfen, mit Hilfe von Erfahrungen bewertet. Diese Bewertung geht mit einem Gefühl in die Entscheidungsfindung ein. Es kann allerdings sein, dass einzelne Informationen, zum Beispiel bestimmte Geruchspartikel, Alarm und damit eine sofortige Flucht auslösen. Diese aus der direkten Verknüpfung eines Reizes mit einem bestimmten Verhalten resultierende reflexartige Reaktion betrifft meist Gefahren, die keinen zeitraubenden Entscheidungsprozess erlauben. Gibt es keine derartige spontane Reaktion, müssen in einem nächsten Schritt alle von einem Sinnesorgan gelieferten Details zusammengeführt und in ihrer Gesamtheit beurteilt werden. Wenn, zum Beispiel, eine Vielzahl von Geruchspartikeln erkannt werden, dann entsteht ein Geruchsbild, das als Ganzes zusätzliche Informationen liefern kann. Mögen einzelne Geruchspartikel ausreichen, um eine Gefahr zu erkennen, so kann deren Gesamtheit anzeigen, ob es sich bei der möglichen Beute um ein junges oder älteres, ein gesundes oder verletztes, ein in der Nähe befindliches oder ein sich entfernendes Tier handelt. Um dieses Potenzial ausschöpfen zu können, müssen Erfahrungen in den Abgleich der Informationen einbezogen werden. Diese komplexe Verarbeitung der Informationen erfolgt in der Großhirnrinde, wo sich für die einzelnen Sinne spezielle Areale herausbildeten. Führt sie zu einer von der ersten Bewertung abweichenden Berurteilung, werden Botenstoffe auf den Weg gebracht, die die bereits hervorgerufenen Gefühle dämpfen oder verstärken.

Mit der Verbesserung des Gedächtnisses war auch verbunden, dass Handlungen beziehungsweise deren Erfolg im Nachhinein bewertet werden können. Stellt sich in der Reflexion der Ereignisse heraus, dass die Situation falsch eingeschätzt wurde, dann könnte das an den hinzugezogenen Erfahrungen liegen. Vielleicht wurden die falschen Erfahrungen zu Rate gezogen oder sie spiegelten die Komplexität der Situation nicht ausreichend wider. In jedem Fall müssen sie in Frage gestellt und gegebenenfalls modifiziert werden. Das Gedächtnis ist also nichts statisches, vielmehr werden gespeicherte Erfahrungen immer wieder überprüft und verändert. Erfahrungen, die nicht benötigt werden, verblassen, solche, die sich immer wieder als wichtig bestätigen, bleiben mit hohem Stellenwert im Gedächtnis präsent.

Je öfter eine Erfahrung erfolgreich zum Einsatz kommt, umso stabiler prägt sie sich aus. Dies gilt in besonderem Maße für die Steuerung von Bewegungen. Wird eine Bewegung immer und immer wiederholt, führt das nicht nur zu ihrer Optimierung, sondern auch zum bevorzugten, quasi automatisierten Abruf der optimierten Bewegungsvariante. Der Stellenwert einer Erfahrung kann auch durch das Gefühl, mit dem sie verknüpft ist, bestimmt werden. Die Bewertung durch ein Gefühl ist für die im Großhirn gespeicherten, das Verhalten prägenden Erfahrungen charakteristisch. Je stärker das markierende Gefühl war, desto länger und intensiver bestimmt diese Erfahrung die zukünftigen Handlungen. Das kann soweit gehen, dass selbst dann, wenn die zu beurteilende Situation nur bedingt mit der Erfahrung vergleichbar ist, sie trotzdem das Handeln beeinflusst. Im Extremfall wird eine prägende Erfahrung das gesamte Verhalten des Lebewesens bestimmen und dadurch abnorm werden lassen.

Erfahrungen spielten im Verlauf der Evolution eine immer größer werdende Rolle. Offensichtlich erwiesen sie sich als Vorteil im Überlebenskampf. Die in Gemeinschaften lebenden Tiere konnten diesen Vorteil steigern, indem sie möglichst viele der in der Gruppe gesammelten Erfahrungen an andere, wie auch an Nachkommen, weitergaben. Erfahrungen zu Bewegungsabläufen kann man zum Beispiel durch das Vormachen und das spielerische oder gezielte Nachahmen vermitteln. Erfahrungen, die zur Bewertung einer Situation oder eines Verhaltens geeignet sind, kann man mit Hilfe von Lauten, Gesten und andere körperliche Ausdrucksmitteln weitergeben. Wichtig ist, dass auch die Gefühle, die sich mit den Erlebnissen verbanden, für den anderen nachvollziehbar werden. Nur durch die Verknüpfung mit Gefühlen können sich bewertende Erfahrungen im Gedächtnis verankern.

zuletzt geändert: 28.09.2019

vgl. auch: Entdeckungsreise durch das Gehirn, Gehirn & Geist spezial, Nr. 1/ 2011

1) ebenda, Seite 34

GEO kompakt Nr. 28, Intelligenz, Begabung, Kreativität

Bild: freshideen.com