Diese Weisheit über die Eheschließung scheint aus einer anderen Zeit zu sein. Sie hat den Beigeschmack eines Handelsgeschäfts, bei dem Umtausch ausgeschlossen ist und das deshalb gründlicher Prüfung bedarf. Heute lässt man, zumindest in unserer Gesellschaft, nur die Liebe als Grund für eine Heirat gelten. Sie ist die natürliche Art der Gattenfindung, was nicht zwangsläufig besagt, dass sie auch die vernünftigste ist. Nüchtern betrachtet, sprechen wir von Liebe, wenn bei zwei Menschen gleichzeitig die Hormone verrückt spielen und die Beteiligten zur Vereinigung drängen. Das bleibt häufig nicht ohne Folgen, so dass die Verpflichtung entsteht, für die sich einstellenden Nachkommen zu sorgen. Irgendwann ist dieser in der Natur der Sache liegende Zweck erfüllt. Die Partner können nun, aus Gewohnheit oder weil sie sich gut verstehen, zusammenbleiben, sie können aber auch ein neues Abenteuer beginnen, einer neuen Liebe eine Chance geben.
Mit den chemischen Elementen ist das nicht viel anders. Die 94 natürlichen Elemente gehen die unterschiedlichsten mehr oder weniger zeitweiligen Verbindungen ein. Schuld daran sind vor allem die Elektronen, die das jeweilige Atom umtriebig machen. Allerdings sind auch in diesem Punkt nicht alle Atome gleich. Es gibt Phlegmatiker, wie die Edelgase, und wilde Teufel, wie Magnesium und Kalzium, die sich sehr schnell in die Arme anderer Elemente werfen. Aber der Reihe nach. Die erste Frage ist, wie aus der relativ kleinen Zahl von natürlichen Atomvarianten die riesige Vielfalt von Stoffen, von denen immerhin etwa 20 Millionen bekannt sind, entstehen konnte. Die Antwort muss in der Struktur der Atome zu suchen sein. Auf der einen Seite ist diese durch ein Gleichgewicht der Kräfte, der Kräfte der Anziehung und des Auseinandertreibens, gekennzeichnet. Diese Kräfte verleihen dem Atom sowohl Stabilität als auch Dynamik. Die Stabilität des Atoms ist jedoch relativ, da seine jeweils äußeren Elektronen gefährdet sind. Das gilt insbesondere dann, wenn deren Bewegungsraum nicht die optimale Anzahl von Elektronen versammelt. Trifft ein Atom, das aus diesem Grunde dazu neigt, ein äußeres Elektron abzugeben, auf ein Atom, das dringend ein weiteres Elektron für seine Stabilität sucht, dann kann es gut sein, dass diese Atome eine Partnerschaft eingehen. Diese Partnerschaften können unterschiedlich gestaltet sein. Sie lassen sie jedoch in drei vorherrschende Formen zusammenfassen:
- die Atombindung, bei der einzelne Elektronen von mehreren Atomen gemeinsam genutzt werden,
- die Ionenbindung, bei der ein Atom ein oder mehrere Elektronen komplett an ein anderes Atom abgibt und
- die Metallbindung, bei der sich viele gleichartige Atome mit einer gemeinsamen Wolke aus Elektronen umgeben.
Zum wohl einfachsten Fall einer atomaren Bindung kommt es, wenn sich zwei Wasserstoffatome paaren. Sie nähern sich einander an, bis sie einen Punkt erreichen, da Anziehungs- und Abstoßungskräfte im Gleichgewicht sind. An diesem Punkt bilden die beiden Elektronen eine gemeinsame Hülle um den Doppelkern, der damit einen stabilen Zustand erreicht. Partnerschaften von Atomen, die gemeinsame Elektronen nutzen, nennt man Moleküle. Moleküle werden nicht nur von gleichartigen Atomen gebildet, die große Mehrheit von ihnen geht aus der Verkupplung unterschiedlicher Partner hervor, so dass eine große Vielfalt chemischer Verbindungen ensteht.
Eine andere Form der Partnerschaft, vielleicht sollte man an dieser Stelle besser sagen „einer Schicksalsgemeinschaft“, ist die Ionenbindung. Auf der einen Seite nimmt das eine Atom, zum Beispiel ein Chloratom, einem anderen Atom, zum Beispiel einem Natrium-Atom, ein Elektron ab. Beiden geht es besser, da sie eine höhere Stabilität erreichen. Dafür zahlen sie auf der anderen Seite einen hohen Preis, denn sie müssen nun beieinander bleiben. Allein sind sie nicht mehr komplett. Sie organisieren sich deshalb in einer größeren Struktur, in unserem Fall in einem Salzkristall. Solche auf Ionenbindung basierenden Kristallstrukturen sind weit verbreitet. Der größte Teil der Gesteine weist eine Kristallstruktur auf.
Die dritte Form der Bindung ist die Metallbindung. Metalle sind meist hart und dennoch biegsam. Darüber hinaus sind sie gute Leiter von Energie. Diese Eigenschaften resultieren nicht zuletzt daraus, dass Metallatome bereit sind, ihre Elektronen ziehen zu lassen. Wenn diese Atome mit Artgenossen zusammenkommen, dann entsteht eine Wolke sich relativ frei zwischen den Atomkernen bewegender Elektronen. Die Kerne und die Elektronenwolke bilden auf diese Weise ein Ganzes, das jedoch nicht starr und spröde wie ein Kristallgitter ist, sondern verschiebbar, flexibel und damit formbar. Die relativ freie Beweglichkeit der Elektronen begünstigt auch die Aufnahme und Weiterleitung von Energie.
Kommen wir noch einmal auf den Anfang zurück. Es sind zwei Gleichgewichte, die das Atom und seine Bindungen bestimmen. Zum einen muss ein Gleichgewicht von Struktur und Bewegung, von Masse und Energie erreicht werden. Deshalb muss die Anzahl der Protonen und der Elektronen in der jeweiligen Struktur übereinstimmen. Das Wechselspiel von Kräften der Anziehung und der Abstoßung bewirkt zum anderen, dass in jedem Bewegungsraum nur eine begrenzte Anzahl von Elektronen Platz findet. Ist diese Grenze erreicht, hat dieser Bewegungsraum gleichzeitig seine größte energetische Stabilität erhalten. Weitere Elektronen müssten einen anderen, weiter außen liegenden Bewegungsraum nutzen. In diesem weiter außen liegenden Bewegungsraum sind jedoch die vom Kern ausgehenden Anziehungskräfte geringer. Deshalb sind es diese Elektronen, die am ehesten auf Einflüsse von Dritten reagieren. Für diesen äußeren Bewegungsraum gilt allerdings ebenso, dass er eine optimale Besetzung mit Elektronen anstrebt, um die Stabilität der Struktur zu vergrößern. Wird zum Beispiel im Rahmen einer Ionenbindung ein Elektron abgezogen, um dem Atom eine höhere Stabilität zu verschaffen, dann entstehen bei den beteligten Atomen gleichzeitig Ungleichgewichte im Verhältnis von Protonen und Elektronen. Diese Defizite respektive Überschüsse können innerhalb eines Kristalls, das heißt innerhalb der übergeordneten Struktur, ausgeglichen werden. Ähnliches gilt für die andere, durch Atombindung oder Metallbindung entstandene atomare Partnerschaften. Wie in einer guten Ehe halt.
Partnerschaften sind ansich schon kompliziert genug, trotzdem tauchen immer noch Dritte auf, die sich einmischen und mit ihrer Energie alles durcheinanderbringen. Das ist bei den Elementen nicht anders als im wirklichen Leben. Den Energiehalt der Stoffe geben wir häufig als Temperatur an. Die Temperatur eines Stoffes zeigt an, mit welcher Intensität sich die Atome und Moleküle in ihm bewegen. In einem Kristallgitter sind die Räume eng bemessen. Jedes Teilchen hat seinen festen Platz, an dem es ein wenig zittern oder ähnliches vollführen kann. Viel Spielraum haben sie nicht, weshalb diese Stoffe, Eis zum Beispiel, eine feste Konsistenz und eine niedrig Temperatur aufweisen. Die Energie der Teilchen reicht einfach nicht aus, um die Anziehungskräfte, die das Gitter formiert haben, zu überwinden. Was passiert, wenn man der Struktur von außen Energie zuführt? Die Bewegung der Teilchen wird heftiger, bis sie irgendwann das Gitter sprengen. Die feste Form ist dahin, die Temperatur des Stoffes steigt. Unser Eis wird zu Wasser. Das Wasser ist aber noch immer ein Verbund. Die Moleküle sind zwar beweglicher, aber sie bleiben zusammen. Wird immer weiter Energie zugegeben, dann werden die Anziehungskräfte vollends überwunden und die ehemaligen Partner verflüchtigen sich. Aus dem Wasser wird Dampf, der schnell das Weite sucht. Wieviel Energie erforderlich ist, um eine Partnerschaft zu sprengen, ist von Stoff zu Stoff unterschiedlich.
Natürlich kann auch der umgekehrte Fall eintreten. Wenn unser Wasserdampf eine kalte Glasscheibe berührt wird ihm augenblicklich Energie entzogen und er setzt sich als Wassertröpfchen auf der Scheibe ab. Ist es richtig kalt, entsteht sogar eine mehr oder weniger dünne Eisschicht. Die Wassermoleküle haben sich wieder in die relativ starre Kristallstruktur begeben, nicht freiwillig, wie man nun weiß.
Neben der Temperatur, die uns einen Hinweis auf den Energiegehalt der Stoffe liefert, existiert noch ein weiterer Aspekt, der den Punkt, an dem die Stoffe erstarren oder zu sieden beginnen, beeinflusst – der von außen wirkende Druck. Die meisten wissen vielleicht, dass auf dem Mount Everest Wasser bereits bei weniger als 100° Celsius siedet, da der Luftdruck geringer ist als auf Höhe des Meeresspiegels. Das heißt, die Wassermoleküle brauchen eine geringere Energiezufuhr, um die Kraft, die sie zusammenhält, zu überwinden. Diese Kraft setzt sich demnach aus der inneren Anziehungskraft, die auf dem Mount Everest keine andere ist als an der Nordseeküste, und den äußeren Kräften, die auf den Erhalt der Bindung hinwirken, hier dem Luftdruck, zusammen. Nimmt dieser äußere Druck ab, wird die Summe der Kräfte, die den Verbund zusammenhält, geringer, so dass weniger Energie für die Sprengung der Struktur erforderlich ist.
vgl. auch: GEO kompakt Nr. 31
Bild: visiantis.com
zuletzt geändert: 31.05.2019