Gay-Lussac, eine Schildkröte und das Ende der Zeit

Joseph Luis Gay-Lussac hatte 1802 festgestellt, dass sich Gase bei Energiezufuhr ausdehnen, und zwar bei gleichbleibenden Druck proportional zur Steigerung der Temperatur. Das daraus formulierte physikalische Gesetz wurde nach ihm benannt. Dieses Gesetz würde hier kaum Erwähnung finden, wenn neben der Ausdehnung der Gase nicht noch etwas anderes zu bedenken wäre. Will man ein Gas erhitzen, so muss man ihm Energie zuführen. Diese Energie regt die Gasatome oder Gasmoleküle an, deren Bewegungen nun heftiger werden. Das Gas dehnt sich aus, denn es braucht mehr Raum für seinen Bewegungsdrang. Gleichzeitig schafft sich das Gas diesen Raum, in dem es mit seiner gewachsenen Energie die Kräfte der Anziehung überwindet und sich ausdehnt.

Bewegung schafft Raum. Diese Beobachtung gilt nicht nur für Gase, auch feste und flüssige Stoffe dehnen sich bei Zuführung von Energie aus. Der Grad der möglichen Ausdehnung ist dabei je nach Material unterschiedlich. Er hängt von der Art der Verbindungen zwischen den Atomen oder Molekülen ab. Kristallstrukturen sind weniger flexibel als Metalle oder Flüssigkeiten, deren Bestandteile leicht verschiebbar sind. Die Feststellung „Bewegung schafft Raum“ gilt aber nicht nur für Atome und Moleküle, sie gilt genauso für das Universum als Ganzes. Man weiß, dass sich das Universum permanent ausdehnt. Offensichtlich bildete sich nach dem Urknall kein Massemittelpunkt, so dass sich seine Bestandteile beinahe ungehindert in alle Richtungen ausbreiten können. Im Prozess des Auseinandertreibens vergrößert sich der Bewegungsraum des Universums, es schafft sich Raum.

Man könnte einwenden, dass der Raum, der durch die nun stärkere Bewegung besetzt wird, auch schon vorher existierte. Das stimmt, und auch wieder nicht. Nehmen wir noch einmal unser umtriebiges Gas zur Hilfe. Erhitzt man das Gas innerhalb eines abgeschlossenen Behälters, dann kann es sich ausdehnen und den ganzen Raum im Behälter besetzen, während es vorher nur am Boden herumgelungert hatte und auch nur dort mit anderen Stoffen reagieren konnte. Den Raum, den es sich innerhalb des Behälters neu erschließen kann, der war als Raum des Behälters natürlich bereits vorhanden. Das heißt, das sich ausdehnende Gas besetzt einerseits einen in der übergeordneten Struktur, dem Behälter, bereits vorhandenen Raum, andererseits ist dieser Raum für das Gas neu, denn es war vorher dort nicht präsent. Wie ist das mit dem Universum? War der Raum, den das Universum durch seine Ausdehnung neu besetzt vorher vorhanden? Für das Universums war er nicht vorhanden, denn es gilt das Gleiche wie für das Gas, nur der eigene Bewegungsraum zählt. Ob es eine dem Universum übergeordnete Struktur gibt, wissen wir nicht. Es spielt für uns auch keine Rolle, da wir von Ereignissen außerhalb unseres Universums nicht tangiert würden. Selbst ein Ereignis am Rand unseres Universums wäre für uns ohne Belang, da die Erde beim Eintreffen einer entsprechenden Nachricht respektive Wirkung längst nicht mehr existieren würde.

Da Ferdinand immer wieder den dialektischen Ansatz beachtet wissen wollte, müssen wir auch nach der Umkehrung der These „Bewegung schafft Raum“ fragen. Die Umkehrung der These wäre die Aussage „Wo keine Bewegung ist, da ist kein Raum“. Woran kann man diese Aussage festmachen? Das ist schwierig, weil es in der Natur bekannterweise nichts gibt, das ohne Bewegung ist. Der absolute Nullpunkt wird eben deshalb nicht erreicht, weil etwas völlig Bewegungsloses nicht existieren kann. Hinzu kommt, dass ein Stoff, der bis nahe an den absoluten Nullpunkt abgekühlt wurde, noch immer Bestandteil einer übergeordneten Struktur, der Erde zum Beispiel, und ihrer Bewegungen ist. Aber wie kommen wir nun mit unserer These weiter? Wenn man nicht weiter weiß, dann besteht immer die Möglichkeit, bei den alten Griechen nach Anregungen zu suchen. Sie haben vieles schon einmal diskutiert, was uns noch heute beschäftigt. Jetzt kommt die Schildkröte ins Spiel. Zenon war folgende scheinbar paradoxe Überlegung aufgefallen: Achill bestreitet einen Wettlauf mit einer Schildkröte. Die Schildkröte erhält einhundert Meter Vorsprung. Beide laufen gleichzeitig los. Wenn Achill an dem Punkt ankommt, von dem die Schildkröte gestartet ist, also nach einhundert Metern, dann hat die Schildkröte in der gleichen Zeit sagen wir zehn Meter zurückgelegt. Eine Schnellläufer-Schildkröte halt. Beide laufen natürlich weiter. Wenn Achill die zehn Meter zurückgelegt hat, ist die Schildkröte wieder einen Meter davongezogen und so weiter. Das heißt, immer wenn Achill an dem Punkt ankommt, von dem die Schildkröte losgelaufen ist, dann ist diese ein kleines, ein immer kleiner werdendes Stückchen voraus. Dies kann man bis zur Unendlichkeit fortsetzen. So gesehen, könnte Achill die Schildkröte nicht überholen. Er überholt sie trotzdem. Wieso?

Die Logik spielt uns hier einen Streich. Mathematisch ist das Ganze einfach. Man kann den Punkt genau errechnen, an dem Achill die Schildkröte überholt. Einerseits kann man den Abstand zwischen Achill und der Schildkröte unendlich kleiner werden lassen, andererseits gibt es einen genau bestimmbaren Grenzwert, einen Punkt, an dem Achill an der Schildkröte vorbeizieht. Ein Grenzwert in der Unendlichkeit! Offensichtlich haben Mathematiker kein Problem damit, die Unendlichkeit mittels ihres Gegenteils, eines konkreten Grenzwertes zu definieren. Ihre Methode hat sich ja auch in der Praxis als zutreffend erwiesen. Auf unseren Wettlauf bezogen heißt das, der Punkt, an dem Achill die Schildkröte überholt, kann keine räumliche Dimension mehr haben, denn dann gäbe es immer eine noch kleinere, die zurückzulegen wäre. Da dieser Punkt keine räumliche Dimension hat, kann er keine Bewegung verkörpern. Er ist ein Zeit-Punkt der Bewegungslosigkeit. Man kann die Ausgangsdaten für die Berechnung eines solchen Grenzwertes ganz beliebig wählen. Jeder Punkt einer Bewegung kann auf diese Weise als Grenzwert in Erscheinung treten. Mit anderen Worten, die Bewegung setzt sich aus Zeit-Punkten der Bewegungslosigkeit zusammen. Die Punkte der Bewegungslosigkeit müssen gleichzeitig, da sie in ihrer Gesamtheit die Bewegung ausmachen, ein die Bewegung konstituierendes Moment in sich tragen.

Eigentlich ist es merkwürdig, dass Bewegungen aus Zeitpunkten der Bewegungslosigkeit bestehen sollen. Was heißt merkwürdig, immerhin handelt es sich um eine Grundeinsicht der Dialektik, dass nichts nur aus sich selbst erklärt werden kann, sondern dass immer das Gegenteil in die Erklärung einbezogen werden muss. Heraklit hat dies vor 2 500 Jahren so formuliert: „Alles Erkennen, das also diese Identität des Gegensatzes mit sich selbst nicht erfasst hat, die Dinge vielmehr für bloß identisch mit sich selbst und ihr Gegenteil nur ausschließend, somit für beharrende statt prozessierende hält, ist daher ein von dem Allgemeinen und Objektiven abweichendes subjektives Meinen, das keine Wahrheit haben kann…“. Vielleicht wird dieser Gedanke etwas klarer, wenn man bedenkt, dass wohl niemanden zu erklären ist, was „dunkel“ bedeutet, wenn er keine Vorstellung davon hat, was mit „hell“ gemeint ist. Das eine definiert sich aus dem Gegensatz zum anderen.

Doch zurück zu unserer Raumfrage. Eindrucksvoll haben Achill und die Schildkröte gezeigt, dass es dort, wo keine Bewegung ist, auch kein Raum sein kann. Bleibt noch die Frage, was das alles mit dem Ende der Zeit zu tun hat. „Ich bin der Geist der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles was entsteht / Ist wert dass es zu Grunde geht…“ lässt Goethe den Mephisto sagen. Was ist dieses „alles“, das entsteht und zugrunde geht? „Alles“, das sind letztlich alles Strukturen, egal ob Moleküle oder Planeten, ob Pflanzen, Tiere oder Menschen. Alle entstehen irgendwann und, wenn ihre Zeit um ist, zerfallen sie wieder in ihre Bestandteile. Sie zerfallen am Ende ihrer Zeit. So gesehen ist die Zeit etwas Konkretes, nämlich die Spanne vom Werden bis zum Vergehen der jeweiligen Struktur. Alles hat seine Zeit.

Genauso wie jede Struktur Bestandteil einer übergeordneten Struktur ist, so ist auch die Zeit dieser Struktur Bestandteil einer übergeordneten Zeit. Die Zeit der Schildkröte geht in die Zeit der Erde als Planeten ein. Die Erde wird nicht aufhören zu existieren, nur weil die Schildkröte das Zeitliche segnet. Sollte allerdings die Zeit der Erde aus irgendeinem Grund abrupt zu Ende gehen, dann hilft es der Schildkröte nicht, dass sie eigentlich noch jung an Jahren ist und ihre Zeit daher noch nicht gekommen wäre. Sie geht mit der Erde, deren Bestandteil sie ist, unter. Die Erde wiederum ist Bestandteil des Sonnensystems und dieses gehört zur Milchstraߟe, unserer Galaxis. Letztlich sind alle Strukturen Bestandteil des Universums und damit der universellen Zeit. Die universelle Zeit entsteht mit dem Universum und irgendwann wird sie mit ihm zu Ende gehen.

Fassen wir zusammen. Bewegung schafft Raum und sie setzt sich aus Zeitpunkten der Bewegungslosigkeit zusammen. Diese Zeitpunkte der Bewegungslosigkeit können selbst keine räumliche Dimension haben, sie tragen jedoch das konstituierende Moment für Raum und Bewegung insich. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Zeit mit den Strukturen entsteht und wieder vergeht. Nun fehlt noch die Frage, wie die kleinsten Bestandteile der Welt, die Grundbausteine aller Strukturen beschaffen sind. Wenn Bewegungen aus Zeitpunkten der Bewegungslosigkeit bestehen, dann müssten Strukturen aus Raumpunkten, die selbst strukturlos sind, aufgebaut sein. Wie ist das zu verstehen?

Bild: terryrotter.de

zuletzt geändert: 02.06.2019