Über das Messen

Wir erfahren diese Welt mit unseren Sinnen beziehungsweise durch das, was unser Gehirn aus den Signalen der Sinnesorgane macht. An diesen Informationen orientieren wir unser Handeln, um ein gesetztes Ziel zu erreichen. Selbst, wenn wir das Ziel verfehlen, gewinnen wir immerhin Erfahrungen, die uns helfen, zukünftige Wahrnehmungen besser einzuordnen und erfolgreicher zu handeln. Das setzt allerdings voraus, dass die für die jeweilige Situation zutreffende Erfahrung zurate gezogen wird. Für die Auswahl der am besten geeigneten Erfahrung ist ein Abgleich der Wahrnehmungen mit den vorhandenen Erfahrungen erforderlich. Vergleiche helfen aber nicht nur bei der Auswahl der richtigen Erfahrungen, sie ermöglichen auch, dem Leben eine gewisse Ordnung zu geben. So veranstaltet man zum Beispiel Wettkämpfe um herauszufinden, wer der schnellste Läufer ist, wer am weitesten springen oder werfen kann. Heute sind diese Wettkämpfe vor allem Unterhaltung, für unsere frühen Vorfahren war das Kräftemessen jedoch wichtiger Teil des Zusammenlebens, da sich in den Wettkämpfen eine Rangordnung herausbildete. Es werden aber nicht nur Leistungen miteinander verglichen, sondern auch Dinge, die auf diese Weise nach bestimmten Kriterien geordnet werden können. Zu den wichtigsten Kriterien gehören mengenmäßige Bestimmungen, die man durch einfaches Abzählen oder durch Messungen ermittelt. Ferdinand meinte, wir sollten uns jetzt die Methoden des Messens etwas genauer ansehen.

Da steht ein Tisch, dessen Länge wir ausmessen können. Dafür brauchen wir einen Gliedermaßstab – welch ein hässliches Wort. Mein Opa hat noch Zollstock gesagt. Das trifft zwar inhaltlich nicht zu, weil bei uns Längen nicht mehr in Zoll gemessen werden, trotzdem finde ich das Wort griffiger. Ans Werk! Ich klappe den Zollstock auseinander, lege ihn an die Tischkante an und lese auf dem Zollstock die Länge ab – 1,20 m. Die Tischkante ist 1,20 Meter lang. Das war einfach. Manchmal lohnt es sich, über die scheinbar einfachen Dinge nachzudenken. Noch einmal. Was habe ich beim Vermessen der Tischkante getan? Ich habe den Zollstock auf den Tisch gelegt und dessen Länge an dem auf dem Zollstock aufgezeichneten Maßstab abgelesen. Woher kommt dieser Maßstab? Es waren die Franzosen, die in den Jahren nach der Revolution von 1789 nicht nur das Herrschaftssystem umkrempelten sondern auch das System der Maße. Es sollte auf Dezimalbasis vereinheitlicht und auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt werden. In diesem Zuge wurde auch der Meter als Längenmaß eingeführt. Die Länge eines Meters berechnete man auf der Basis geophysikalischer Größen. Der Vorteil dieses Herangehens war, dass die ausgewählten Parameter hohe Beständigkeit aufwiesen. Die dem Meter zugrundegelegte Berechnung konnte auf diese Weise jederzeit nachvollzogen werden. Trotzdem war die Auswahl der für die Berechnung genutzten Größen willkürlich. Man hätte auch andere Werte zugrunde legen können, dann hätte der Meter halt eine andere Länge gehabt.

Den für den Meter berechneten Wert brachte man in eine metallische Form, die als Urmeter fortan Ausgangspunkt aller metrischen Messungen wurde. Den Urmeter untergliederte man in hundert gleiche Teile, die Zentimeter, die weiter unterteilt werden konnten. Man kann den Meter natürlich auch vervielfachen und so zum Beispiel einen Kilometer erhalten. Der gewonnene Maßstab konnte nun auf ein Messmedium, einen Zollstock zum Beispiel, aufgetragen werden, so dass ein Werkzeug zum Messen entstand. Wenn man einen solchen Zollstock auf den Tisch legt und die Länge der Tischkante am Maßstab abliest, dann vergleicht man im Kern also die Länge der Tischkante mit der Länge des Urmeters. Bei meiner Messung habe ich demnach festgestellt, dass die Kante des Tisches 20 Hundertstel länger als der Urmeter ist. Der Urmeter wurde zum Bezugssystem aller metrischen Messungen. Ich ermittele beim Messen demnach keinen absoluten Wert, sondern einen relativen Wert im Vergleich zum Urmeter. Diesen relativen Wert der Länge kann ich wiederum nur ermitteln, weil der Tisch tatsächlich eine Längenausdehnung, eine absolute Länge hat.

Für eine Messung braucht man also ein Messwerkzeug mit einem Maßstab. In unserem Fall war der Maßstab der Urmeter mit seiner dezimalen Unterteilung, das Messwerkzeug war der Zollstock. Mit dem Namen Zollstock verbindet sich das Wissen, dass auch andere Maßstäbe der Längenmessung möglich sind. In früheren Zeiten waren viele unterschiedliche Maße gebräuchlich, was den Warenverkehr behinderte und Missverständnissen Vorschub leistete. Die Vereinheitlichung der Maßsysteme kann daher als epochale Errungenschaft angesehen werden, ohne die der rasante Siegeszug der Industriellen Revolution kaum vorstellbar ist. Im internationalen Vergleich finden wir jedoch nach wie vor verschiedene Maßsysteme. Sie wirken in einer globalisierten Welt allerdings wie aus der Zeit gefallen. Als Messwerkzeuge sind ebenfalls ganz unterschiedliche Instrumente in Gebrauch. Letzteres hat einen guten Grund, da für die verschiedenen Zwecke die Messgeräte unterschiedliche Eigenschaften aufweisen müssen. Letztendlich ist es jedoch egal, ob wir ein Lineal, einen Zollstock oder ein Bandmaß benutzen, ob wir die Lasermessung oder ein Echolot einsetzen, wir  ermitteln immer einen Vergleichswert zum gewählten Maßstab, in unserem Fall zum Urmeter.

Eine Voraussetzung für den Vergleich verschiedener Messungen ist, dass der gleiche Maßstab verwendet wurde. Damit ist nicht nur das gleiche Maßsystem gemeint, sondern auch die Genauigkeit des benutzten Messwerkzeugs. Jede noch so kleine Abweichung des mit dem Messwerkzeug verwendeten Maßstabs vom Urmeter macht auch die entsprechende Messung ungenau. Damit das Vergleichsstück, das heißt der metallische Urmeter, selbst eine hohe Beständigkeit erhielte, stellte man es aus einem sehr stabilen Material, einer Legierung aus Platin und Iridium, her. Er wird bei exakt 0 Grad Celsius gelagert, denn die Temperatur hat bekanntlich Einfluss auf die Längenausdehnung des Materials. Für die Genauigkeit des Messvorgangs ist demnach wichtig, dass auch die äußeren Bedingungen der Messung den Bedingungen der Einlagerung des Urmeters entsprechen. An dieser Stelle kann man mit einem Seufzer der Erleichterung konstatieren, dass im Alltag meist keine derartig hohen Anforderungen an die Genauigkeit gestellt werden. Für die meisten Messungen sind die Genauigkeit des Zollstocks und die Messung bei Zimmertemperatur völlig ausreichend. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass alle drei Faktoren, der Maßstab, das Messverfahren und die äußeren Bedingungen des Messens, Quellen von Ungenauigkeiten sind. Hinzu kommt, dass nichts auf dieser Welt so bleibt, wie es ist. Das heißt, ganz egal, was man auch macht, während einer Messreihe werden sich immer Veränderungen ergeben, und seien sie auch noch so gering, die die Genauigkeit der Ergebnisse begrenzen. Messungen können also niemals absolut genau sein. Sie haben immer eine relative Genauigkeit, was unproblematisch ist, solange der Zweck der Messung erreicht wird.

Was kann man außer der Länge noch messen? Das Gewicht zum Beispiel. Ähnlich wie beim Meter war es auch hier die in der Französischen Revolution entstandene Nationalversammlung, die einen allgemeingültigen Maßstab für das Gewicht festlegte. Ein Urkilogramm wurde definiert und als Platin-Iridium-Zylinder in eine Form gegossen. Diese galt fortan als Maßstab für die Bestimmung der Gewichte. Wenn wir heute ein Gewicht ermitteln, zum Beispiel mit Hilfe einer Waage, dann bestimmen wir also einen Vergleichswert zum Urkilogramm.

Man kann auch die Temperatur messen. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Messverfahren der Temperatur nutzte man die Beobachtung, dass sich Körper, wenn sie erwärmt werden, ausdehnen und dies proportional zum Grad der Erwärmung. Für die Konstruktion von Messwerkzeugen verwendete man Flüssigkeiten, da sich diese in dünne Röhrchen bannen ließen, die ein einfaches Ablesen der Ausdehnung ermöglichten. Celsius setzte für sein Messinstrument Wasser ein. Für den erforderlichen Maßstab nutzte er den Siedepunkt und den Gefrierpunkt des Wassers bei einem Luftdruck von 760 Torr. Auf eine Skala übertragen gab er den erhaltenen Punkten die Werte 100 und 0. Den Zwischenraum unterteilte er in einhundert gleichmäßige Schritte, Grade genannt. Diese Skala konnte nun über die Fixpunkte hinaus nach oben und unten verlängert werden, so dass eine Skala entstand, mit deren Hilfe man die Temperaturen verschiedener Stoffe bestimmen konnte. Richtiger sollte man sagen, die Temperaturen der Stoffe konnten nun verglichen werden, da sie mit dem selben Maßstab bestimmt wurden. Durch den Vergleich erielt man eine Vorstellung von der unterschiedlichen Wärme der Dinge, die nun im Handeln Berücksichtigung finden konnte. Dass man die Temperatur immer nur relativ, in Bezug auf einen Maßstab bestimmt, ändert nichts daran, dass die Temperatur respektive der Energiegehalt eine tatsächliche Eigenschaft der Stoffe ist.

In der Geschichte entstanden verschiedene Maßstäbe für die Messung der Temperatur. Fahrenheit verwendete ein Quecksilberthermometer. Als Nullpunkt legte er eine Temperatur fest, die er bei einer Mischung aus Schnee und Salmiakgeist bestimmt hatte. Er nahm an, dass dies die tiefste in der Natur vorkommende Temperatur sei. Als zweiten Fixpunkt nutze er die normale Körpertemperatur des Menschen. Den Zwischenraum zwischen diesen beiden Punkten unterteilte er in 96 Einheiten. Réaumur wiederum verwendete wenige Jahre später ein mit Alkohol gefülltes Thermometer, dessen Gefrier- und Siedepunkt seine Fixpunkte waren. Der Zwischenraum wurde hier in 64 Punkte unterteilt. Im Laufe der Zeit hat sich in Europa die Skala nach Celsius weitgehend durchgesetzt, wobei Celsius selbst den Gefrierpunkt des Wassers mit 1000 und den Siedepunkt mit 00 festgelegt hatte. Erst Linné drehte die Skala um und erhielt die noch heute gebräuchliche Einteilung. In den USA wird die Temperatur meist nach der Skala von Fahrenheit angegeben.

Aus der Geschichte der Temperaturmessung sieht man, dass die Entwicklung eines Maßstabs jeweils eng mit den natürlichen Eigenschaften des benutzten Messmediums verbunden war. Die Auwahl des Messmediums erfolgte wiederum recht willkürlich. Selbst der Fakt, dass die Annahme Farenheits, die niedrigste in der Natur vorkommenden Temperatur betreffend, falsch war, verhinderte nicht, dass seine Temperaturskala bis heute Verwendung findet. Es ist also völlig gleich, welche Fixpunkte einer Skala zugrunde gelegt werden, die Qualität eines allgemeingültigen Maßes erhalten sie nicht durch deren wissenschaftliche Begründung sondern durch ihre Akzeptanz in der Gesellschaft. Dieser Umstand wird auch darin deutlich, dass sich die Messinstrumente im Laufe der Zeit vom ursprünglichen Messmedium, bei Celsius dem Wasser, entfernten. Heute werden ganz unterschiedliche Medien beziehungsweise Methoden zur Messung der Temperatur herangezogen, deren Resultate trotzdem in Grad Celsius angegeben werden.

Die Maßstäbe des Messens sind so vielfältig wie die Eigenschaften der Stoffe, die sie quantitativ bestimmen. Für alle gilt das Gesagte in ähnlicher Weise. Was wir uns unbedingt noch genauer anschauen müssen, sind Bewegungen und die Bestimmung ihrer Geschwindigkeit. Dafür wird eine weitere Größe benötigt, die Zeit. Was ist Zeit überhaupt? Stofflich, im eigentlichen Sinne, ist Zeit wohl nicht. Ganz allgemein könnte man vielleicht sagen, dass alles eine Zeit hat, in der es entsteht, sich verändert und wieder vergeht. Um die unterschiedlichen Zeiträume, in denen sich diese Prozesse vollziehen, vergleichen zu können, brauchte man einen Maßstab. Es war naheliegend, regelmäßig wiederkehrende Zyklen in der Natur, wie die Tage, die Mondphasen oder die Jahreszeiten, für einen derartigen Maßstab zu nutzen. Diese Zyklen konnte man in kleinere Einheiten unterteilen, so dass genauere Zeitangaben möglich wurden. Der durchschnittliche Sonnentag wurde beispielsweise in 24 Stunden zu jeweils sechzig Minuten gegliedert. Ein voller Zyklus der Jahreszeiten, gemessen am Stand der Sonne, wurde zu einem Jahr, ein Mondzyklus zu einem Monat. Für die Zählung der Jahre brauchte man noch einen Punkt, mit dem sie beginnen konnte. Die Festlegung eines solchen Anfangspunktes erfolgte wiederum recht willkürlich. Nicht überall wird zum Beispiel das derzeitige Jahr mit der Zahl 2019 nach Christi Geburt angegeben. Nach dem jüdischen Kalender sind wir im Jahr 5.780 nach Erschaffung der Welt, nach dem islamischen Kalender im Jahr 1.440 nach der Ankunft von Mohamed in Medina und nach dem Französischen Revolutionskalender im Jahr 230 nach dem Sturm auf die Bastille. Mit der Festlegung eines Anfangspunktes und eines Zyklus, wie dem Sonnenjahr, erhält man eine Zeitskala, die in beide Richtungen, also in Vergangenheit und Zukunft, verlängert werden kann. Als Messverfahren, kommt jeder gleichmäßig wiederkehrende Vorgang in Betracht. So liegen dem „Ticken“ der Uhren meist mechanische Schwingungen oder atomare Bewegungszyklen zugrunde. Für die Zeitmessung gilt jedoch das gleiche, wie für alle Messungen, man kann nicht den absoluten Verlauf der Zeit bestimmen, man kann lediglich Zeitperioden miteinander vergleichen.

Bild: www.br.de

zuletzt geändert: 06.06.2019