Die Geschmäcker sind verschieden

Wo mag diese Binsenweisheit herkommen? Sicher, der Geschmack der Menschen ist in puncto Farben, Design, Musik und vielem anderen unterschiedlich. Gott sei Dank, möchte man sagen. Die Alternative wäre ein abgeschmacktes Einerlei – wie langweilig. Aber warum sind die Geschmäcker unterschiedlich? Man kommt dieser Frage wohl nur näher, wenn man sich der Bedeutung von „Geschmack“ zuwendet. Geschmack steht eigentlich nicht allgemein für das, was gefällt, er hat vielmehr etwas mit dem Schmecken, also einer speziellen Wahrnehmung zu tun. Der dafür verantwortliche Geschmackssinn wird zu den am wenigsten ausgeprägten Sinnen des Menschen gezählt. Trotzdem war er für unsere frühen Vorfahren überlebenswichtig. Mit Hilfe des Schmeckens konnte das, was man in den Mund schob, dahingehend bewertet werden, ob es als Nahrung taugte oder eben nicht. Neugeborene haben zum Beispiel eine Vorliebe für Süßes und für den Geschmack von Eiweiß (umami). Beides signalisiert, dass das, was da gerade in den Mund gelangt, nahrhaft ist. Saures und Bitteres werden dagegen vehement abgelehnt. Sauer sind Früchte, die noch nicht reif oder gar vergoren sind. Sie sind nur bedingt bekömmlich und kommen als Energielieferanten kaum in Betracht. Bitteres kann sogar giftig sein. Salziges mögen wir in Maßen, weil der Körper Salz braucht. Zu viel Salz bringt ihn um.

So weit so gut, aber wie entsteht Geschmack? Energetische Strahlen oder bewegte Luft scheinen diesmal nicht im Spiel zu sein, erforderlich sind jedoch Sinneszellen, die einen elektrischen Impuls generieren, der an das Gehirn weitergeleitet wird. Solcherart Sinneszellen befinden sich zu jeweils 30 bis 70 Stück in Geschmacksknospen, die an Zunge, Gaumen und Kehldeckel sitzen. Ein Erwachsener verfügt über 2.000 bis 5.000 solcher Geschmacksknospen, bei Jugendlichen zählt man allerdings noch bis zu 9.000. Warum aber nimmt die Zahl der Geschmacksknospen mit dem Erwachsenwerden ab? Wahrscheinlich hängt das mit den Veränderungen, die sich im Laufe der Evolution ergaben, zusammen. Ursprünglich war der Geschmack überlebenswichtig, was sich in seiner Rolle, die er noch heute für Neugeborene hat, widerspiegelt. Im Laufe der Evolution gewannen jedoch andere Informationsquellen beziehungsweise Sinnesorgane größere Bedeutung. Diese Veränderung scheint ihren Niederschlag sich in einer Verringerung der Geschmacksknospen während des Heranwachsens niederzuschlagen.

Die in den Geschmacksknospen versammelten Rezeptoren sind auf unterschiedliche Stoffe spezialisiert, die als süß, sauer, salzig, umami oder bitter identifiziert werden. In den letzten Jahren hat man auch Rezeptoren für Fett nachgewiesen. Die einzelnen Stoffe reizen die Sinneszellen des Geschmacks auf unterschiedliche Weise. Man vermutet, dass salzige und saure Stoffe eine schwache elektrische Spannung im Inneren der entsprechenden Sinneszellen erzeugen und auf diese Weise einen elektrischen Impuls auslösen. Bitter, süß und umami werden identifiziert, indem die im Speichel gelösten Moleküle an entsprechende Rezeptoreiweiße andocken und dort biochemische Prozesse bewirken, die wiederum einen elektrischen Impuls freisetzen. Die Rezeptoren für Bitteres sind in 25 verschiedene Unterarten differenziert, denn als bitter werden Stoffe wahrgenommen, die für den Körper schädlich sein können. Es ist wichtig, diese Stoffe zuverlässig und schnell zu bestimmen, um sofort eine gezielte Reaktion zu ermöglichen. Ausspucken könnte eine Maßnahme sein, aber auch das Herauswürgen des bereits Verschluckten. Süß und umami sind nicht gefährlich, ganz im Gegenteil. Die entsprechenden Rezeptoren sind deshalb nicht eng spezialisiert, sie gleichen mehr einem Universalschloss, in das verschiedene Schlüssel ähnlicher Bauart passen. Das heißt, an die Rezeptoren für Süßes kann nicht nur Zucker andocken, auch andere ähnliche Moleküle finden Zugang, die dann ebenfalls als süß wahrgenommen werden. Diesen Umstand macht man sich beim Einsatz von Süßstoffen zunutze.

Den verschiedenen Sinneszellen ist gemeinsam, dass sie einen elektrischen Impuls an das Gehirn senden, sobald ein entsprechender Stoff registriert wird. Das Gehirn ordnet dem Signal der Sinneszelle einen spezifischen Geschmack oder besser eine Geschmacksnuance zu. Der Geschmack im komplexen Sinne ergibt sich aus der Kombination der zum gleichen Zeitpunkt eintreffenden Informationen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, so dass ein Geschmacksbild entsteht. Das Gehirn gleicht dieses Geschmacksbild mit Erfahrungen ab, um auf diese Weise die jeweilige Kombination von Geschmacksnuancen zu identifizieren und ihm eine Bewertung, zum Beispiel „wohlschmeckend“, zuzuordnen. Nehmen wir nun Zucker als süß wahr, weil er süß ist, oder ordnet unser Gehirn dem Zucker die uns angenehme Wahrnehmung „süß“ zu, weil er eine vielversprechende Energiequelle darstellt? Süß als Anreiz, sozusagen. Da die Geschmackszellen elektrische Impulse an das Gehirn senden, die selbst weder süß noch sauer sein können, muss es wohl wieder das Gehirn sein, das sich als sorgender Übervater betätigt und den einzelnen Signalen spezifische Wahrnehmungen zuordnet. Im Umkehrschluss heißt das, auch Geschmack ist nur eine Fiktion. Weder Zucker, noch Fleisch, noch irgendetwas anderes, was man in den Mund schiebt, hat „Geschmack“. Der Geschmack wird den Stoffen vom Gehirn zugeordnet. Ja mehr noch, jedem Geschmack wird gleich noch eine Bewertung beigegeben. Nahrhafte Dinge sind wohlschmeckend beziehungsweise angenehm, potentiell gefährliche eher weniger.

Bleibt die Frage, wieso die Geschmäcker von Mensch zu Mensch verschieden sind? Dafür kommen mehrere Ursachen in Frage. Eine relativ große Rolle spielen die Gene. Man hat herausgefunden, dass zirka 50 Gene den Geschmack des Menschen beeinflussen. Von diesen Genen ist immer nur ein Teil aktiv. Bei wem welche geschmacksrelevanten Gene aktiv sind und welche nicht, dafür scheint es keine Regel zu geben, jedenfalls hat man bisher keine gefunden. Auf diese Weise entsteht eine riesige Zahl von möglichen Kombinationen aktiver, den Geschmack prägender Gene.

Der Geschmack wird aber nicht nur durch Gene sondern auch durch Erfahrungen geprägt und verändert. Man denke nur daran, dass kaum einem Heranwachsenden Bier wirklich schmeckt, denn es ist leicht bitter. Leider ist dies keine dauerhafte Barriere, wie man weiß. Der Rausch, den der Alkohol erzeugt, überdeckt die Abneigung gegen Bitteres nur allzu schnell. Da ich Wein liebe, fand ich auch folgendes Beispiel interessant. Die Erfahrung lehrt, dass Rotweine meist dutch kräftigere Aromen gekennzeichnet sind als Weißweine. Bei einer Verkostung eines roten und eines weißen Weines, die ansonsten aber einen ähnlichen Charakter zeigen, würde die Bewertung der Weine, der Erfahrung folgend, dem roten kräftigere Aromen bescheinigen. Werden die selben Weine mit verbundenen Augen verkostet, dann stellen die meisten Probanden jedoch kaum Unterschiede fest.

Neben den Genen und den Erfahrungen gibt es viele weitere Faktoren, die ein Geschmackserlebnis beeinflussen. Einer dieser Faktoren ist das Allgemeinbefinden. Wenn ein Mensch krank ist und es ihm schlecht geht, dann kann ihn Essen womöglich überhaupt nicht locken. Nichts würde schmecken. Hat gar Montezumas Rache zugeschlagen, dann können schon geringste Spuren eines eigentlich geliebten Gewürzes Brechreiz auslösen. Auch das Wetter spielt eine Rolle. Ist es bitter kalt, schmecken andere Dinge, als wenn es drückend heiß wäre. Natürlich kann auch das, was wir kurz vorher gegessen oder getrunken haben, das Geschmackserlebnis beeinflussen. Noch etwas. Wir wissen, Hunger ist der beste Koch. Das heißt, je hungriger jemand ist, desto besser wird ihm das Essen schmecken. Für den Ausgehungerten ist selbst trockenes Brot eine Delikatesse. Umgekehrt mag dem Satten auch die tollste Leckerei ungenießbar erscheinen. Eine lila Kuh wird nach dem Verzehr von drei Tafeln Vollmichschokolade bei den meisten Menschen eher Ekel als freudige Erwartung auslösen. Es soll nicht unterschlagen werden, dass auch der Geruch am Geschmackserlebnis maßgeblich beteiligt ist. Hinzu kommt der Tastsinn im Mund, der uns die Konsistenz der Speisen signalisiert. Auch die Temperatur der Speisen und das Schmerzempfinden spielen eine Rolle. So ist die von vielen geschätzte Schärfe eigentlich ein Schmerz, den scharfe Gewürze im Mundraum verursachen. Zu guter Letzt trägt auch noch das Auge seinen Teil zum Geschmackserlebnis bei. Es isst mit, wie man sagt. Gemeint ist, dass ein ansprechendes Aussehen und Arrangement der Speisen ebenso wie ein gelungenes Embiente im Raum das Geschmackserlebnis befördern.

Gerade beim Geschmack wird also deutlich, dass das Gehirn dem ursprünglichen Signal der entsprechenden Sinneszellen nicht nur einen Eindruck, einen Geschmack zuordnet, sondern dass es auf der Grundlage vielfältiger Faktoren diese Wahrnehmung jedes Mal neu bewertet. Auf diese Weise entsteht für ein und dieselbe Speise nicht nur bei verschiedenen Menschen ein unterschiedlicher Geschmack, das Geschmackserlebnis wird auch beim selben Menschen je nach Lebenssituation unterschiedlich sein. Diese individuelle Bestimmtheit des Geschmacks hat sicher dazu beigetragen, dass der Begriff des Geschmacks auch in anderen Zusammenhängen Anwendung fand.

Bild: www.stuttgarter-zeitung.de

 Zuletzt geändert: 26.05.2019