Strukturen, Chaos und der 2. Hauptsatz der Thermodynamik

Bei uns gab es ein geflügeltes Wort, das von meiner Frau zu gern und mit einem Schmunzeln gebraucht wurde: „Schatz der 2. Hauptsatz der Thermodynamik hat wieder zugeschlagen“. Gemeint war: „Alter, du müsstest mal wieder Staub wischen.“ Entstanden war das Ganze, weil ich irgendwo einen Artikel über Entropie und den 2. Hauptsatz der Thermodynamik gelesen hatte, in dem es sinngemäß hieß, dass die Entropie, das heißt die Menge der nicht in Strukturen gebundenen Teilchen, tendenziell zunimmt. Als sehr anschauliches Beispiel war der Staub angeführt, der sich trotz aller Putzerei in Windeseile wieder und wieder ausbreitet. Davon habe ich meiner Frau erzählt, was sich als taktischer Fehler herausstellte.

Trotzdem ist das mit der Entropie spannend. Es geht schon damit los, dass man keine allgemein akzeptierte Erklärung darüber findet, was Entropie überhaupt ist. Vielleicht kommen wir ein Stück weiter, wenn wir uns ein wenig mit Strukturen und ihrem Gegenteil,  dem Chaos, beschäftigen, denn irgendwie, so scheint es, hat auch die Entropie etwas damit zu tun. Wie wir wissen, entstehen Strukturen dadurch, dass Teilchen Bindungen eingehen und sich dabei in einer bestimmten Anordnung formieren. Auslöser für diesen Prozess sind Kräfte der Anziehung und Abstoßung, die diese Teilchen aneinander binden und gleichzeitig auf eine gewisse Distanz halten, so dass Bewegungen innerhalb der Struktur möglich bleiben. Führt man einer solchen Struktur nun Energie zu, so verstärkt sich die Bewegung ihrer Teilchen, bis sie irgendwann mit ihrem Bewegungsdrang die Bindungen, die die Strukturen zusammenhalten, sprengen. Von ihren strukturellen Fesseln befreit, wirbeln die Teilchen nun in chaotischer Weise auseinander. Chaos und Struktur könnten kaum gegensätzlicher sein. Der Faktor, der letztlich den Unterschied ausmacht, ist die Bewegung sprich die Energie der Teilchen. In dem Maße wie ihr Energiegehalt steigt oder sinkt, verändert sich auch die Relation von zu Chaos drängender Bewegung auf der einen Seite und Festigkeit der Strukturen auf der anderen.

Gibt es Strukturen ganz ohne Bewegung? Kelvin hatte seinerzeit den absoluten Nullpunkt bestimmt, an dem eine Struktur keinerlei Energie, sprich Bewegung mehr verzeichnet. Der absolute Nullpunkt ist ein Grenzwert, dem man sich annähern, den man aber nicht erreichen kann. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es keine Struktur ganz ohne Bewegung gibt. Die Bewegungen verkörpern aber das chaotische Moment, was wiederum bedeutet, dass sich keine Struktur findet, die nicht ein chaotisches Moment als Keim der Zerstörung in sich tragen würde. Wenn Struktur und Chaos einen Gegensatz bilden, dann müsste nach dem Verständnis der Dialektik auch die Umkehrung gelten, nämlich dass Chaos nicht ohne Struktur existieren kann. Nehmen wir wieder die Moleküle des Wasserdampfs als Beispiel. Sie folgen in ihren Bewegungen keiner erkennbaren Struktur, trotzdem ist der Vorgang des Verdampfens reversibel. Wenn Wasserdampf durch Entzug von Energie wieder Wasser wird, dann muss es auch für den Wasserdampf einen irgendwie gearteten strukturellen Zusammenhang geben, der die Umkehrung des Verdampfens ermöglicht. Aber welchen?

Jede Struktur ist Bestandteil einer übergeordneten Struktur ist, in letzter Konsequenz des Universums. Gleichzeitig besteht jede Struktur aus Bausteinen, die selbst eine Struktur besitzen. Löst sich nun eine bestimmte Struktur auf, so gilt das noch lange nicht für ihre Bestandteile. Sie bleiben samt der ihnen eigenen Struktur erhalten. Darüber hinaus bleiben diese Bestandteile auch weiterhin Teil übergeordneter Strukturen. Nehmen wir als Beispiel einmal an, es hätte geregnet und auf dem Hof hätten sich Pfützen gebildet. Da bald darauf die Sonne schien, dauerte es nicht lange und das Wasser war verdunstet. Das heißt, der im Wasser vorhandene strukturelle Zusammenhang hatte sich durch die von der Sonne gespendeten Energie aufgelöst. Mit dem Verschwinden der Pfütze hörten aber die Wassermoleküle nicht auf zu existieren. Sie schwirrten nun ohne den Verbund der Pfütze durch die Luft. Gelangt der Wasserdunst dabei in höhere Luftschichten, so werden die Moleküle feststellen, dass es dort kälter ist als in Bodennähe. Ihnen wird Energie entzogen, so dass sie sich wieder in größeren Strukturen, wie Wassertröpfchen, Schneeflocken oder gar Eiskörner, zusammenfinden müssen. Damit sich gasförmige Wassermoleküle wieder zu Wasser oder Eis formieren können, muss ihnen jedoch nicht nur Energie entzogen werden, es müssen auch genügend solcher Moleküle vorhanden sein, damit sich diese gegenseitig anziehen und eine gemensame Struktur bilden können. Das wird durch die übergeordnete Struktur gewährleistet. In unserem Beispiel ist das die Erde mit ihrer Athmosphäre, die ein Entschwinden der Moleküle gen Weltraum verhindert. Irgendwann und irgendwo wird aus den auf diese Weise entstandenen Wolken ein Regenschauer niedergehen, so dass sich wieder Pfützen bilden. Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt, dass im Falle der Auflösung einer Struktur ihre Bestandteile, die ebenfalls eine Struktur besitzen, erhalten bleiben. Sie gehören nach wie vor zu einem der aufgelösten Struktur übergeordneten Ganzen, in dem sich die „freien“ Teile in neuer Weise zu Strukturen finden können. Mit anderen Worten, Strukturen sind allgegenwärtig, während Chaos nur in begrenzten Bezugssystemen möglich ist.

Chaos beruht auf Bewegung. Die Moleküle im Wasserdampf verwirbeln sich ununterbrochen, dabei breiten sie sich in alle Richtungen aus und zwar in dem Maße, wie es ihre Energie zulässt. Die Schneeflocke hingegen, die einmal ihren Platz gefunden hat, bleibt dort liegen, wo sie liegt. In beiden Fällen soll von äußeren Einflüssen abgesehen werden. Die Schneeflocke hat also ihre Ruhe gefunden. Ruhe ist das Gegenteil von Bewegung. Trotz dieser äußerlichen Ruheist die Bewegung der Atome und Moleküle innerhalb der Schneeflocke nicht erstorben. Außerdem bewegt sich unsere Schneeflocke samt der Erde um deren Achse und darüber hinaus um die Sonne. Das heißt, auch Ruhe ist relativ, auf ein definiertes Bezugssystem begrenzt, wohingegen Bewegung allgegenwärtig ist. Unterm Strich sind also Strukturen und Bewegungen universelle Erscheinungen, während Chaos und Ruhe auf bestimmte Bezugsebenen beschränkt bleiben.

Ausgangspunkt der Überlegungen war die Entropie. Wir hatten gehofft, dass das Nachdenken über Struktur und Chaos uns dem Verständnis der Entropie näher bringt. Dabei haben wir festgestellt, dass die Bestandteile einer Struktur Energie aufnehmen können, mit der sie ihre eigene Bewegung intensivieren. Dies geht aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, nämlich bis die Bewegungen dieser Teile so heftig werden, dass sie die Struktur sprengen. Die Teile müssen fortan als Einzelkämpfer ihren Weg suchen. Wird ihnen wieder Energie entzogen, können sie zu einem Strukturverbund zurückfinden. Es gibt allerdings auch Strukturen, die permanent Energie abgeben, wie unsere Sonne. Sie ist im Universum nur eine von vielen, die durch die Auflösung oder Veränderung eigener Strukturen Energie freisetzen. Energie ist immer an Teilchen gebunden, das heißt, wenn Energie freigesetzt wird, werden energetische Teilchen, wie die Photonen, ins All geschleudert. So gesehen ist die Freisetzung von Energie immer mit der Erhöhung der Entropie verbunden, während die Einbindung von Energie in Strukturen das Gegenteil bewirkt. Wieso soll aber die Entropie aufs Ganze gesehen zunehmen? Das hängt offensichtlich mit der Expansion des Universums zusammen, die durch den Urknall in Gang gesetzt wurde. Mit der Ausdehnung des Universums werden die Abstände zwischen seinen Strukturelementen größer, was zu einer Schwächung des Zusammenhalts führt, so dass sich der Expansionsprozess beschleunigen kann. Die dafür erforderliche Energie kann unterm Strich nur aus der Auflösung von Strukturen resultieren, so dass die Zahl der nicht in Strukturen gebundenen Teilchen tendenziell wächst. Die Expansion des Universums und die zunehmende Entropie sind demnach zwei Seiten der selben Medaille. Während das Streben nach Ausgleich der Energieniveaus die Stabilität der Strukturen stärken soll, bewirkt die Entropie das genaue Gegenteil.

Bild: wdr.de

 zuletzt geändert: 02.06.2019