Bewegung ist alles

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Will man jemanden bestehlen, muss man sich bewegen. Mit diesem Satz könnte man die Lebensphilosophie der Tiere zusammenfassen. Objekt ihrer Begierde sind Stoffe, aus denen Energie gewonnen werden kann – Zucker, Fette, Eiweiße. Diese Stoffe hat zwar jemand anderes produziert und deren Diebstahl könnte dem Bestohlenen die Existenz kosten, aber so ist nun mal das Leben – des einen Freud des andern Leid. Die potenziellen Opfer werden allerdings nicht von sich aus angelaufen kommen, um gefressen zu werden. Im Gegenteil, man muss die mögliche Beute erst einmal ausfindig machen, dann muss man sie erhaschen und irgendwie der eigenen Verdauung zuführen. Ein solcher Beutezug bedarf einer zielgerichten Aktion, für die vielfältige Informationen erforderlich sind, die gesammelt, verarbeitet und im Handeln berücksichtigt werden müssen. So kommt eines zum anderen, und für alles braucht man Energie.

Werden von unserem Räuber Pflanzen als Beute bevorzugt, hat das den Vorteil, dass selbige nicht davonlaufen. Der Nachteil des Grünzeugs besteht darin, dass dessen Energiedichte zu wünschen übrig lässt. Das heißt, im Vergleich zum Körpergewicht müssen relativ große Mengen verzehrt werden, um den Energiehunger zu stillen. Fleisch hat eine höhere Energiedichte. Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Nur diese Träume sind flüchtig, sie rennen, schwimmen oder fliegen einfach davon. Die Jäger müssen immer neue Strategien finden, um Beute zu erhaschen. Die Gejagten tun es ihnen nach, denn sie wollen entkommen und ihr Leben retten. Auf diese Weise wurde das Jagen und Gejagtwerden zum Motor für die Entwicklung immer neuer Fähigkeiten.

Die Strategie, andere Lebewesen als Energiequelle zu nutzen, ist vermutlich so alt wie das Leben selbst. Bereits im Zeitalter der Mikroorganismen entwickelten sich nicht nur Bakterien sondern auch Phagen, das heißt Viren, die Bakterien „fressen“. Allerdings sind sie nicht in der Lage, die Bakterien zu verstoffwechseln, um auf diese Weise Energie für ihr alltägliches Leben zu gewinnen. Ihre Strategie besteht darin, die eigenen Lebensprozesse zu minnimieren, um ohne Energienachschub zu überdauern. Die Inhaltsstoffe der Bakterien, in die sie eindringen, dienen praktisch ausschließlich der Erzeugung von Nachkommen. Um den Aufwand für die Umwandlung der erbeuteten Stoffe möglichst gering zu halten, spezialisieren sich die Phagen auf eine oder wenige Bakterienarten. Nur jagen können sie diese nicht, denn woher sollten sie die Energie dafür nehmen. Meister Zufall muss ihnen helfen und eine Wirtsbakterie mundgerecht servieren.

Ein neues Zeitalter brach an, als die Cyanobakterien die Fähigkeit entwickelten, mit Hilfe des Sonnenlichts Energiereservestoffe in Form von Zuckern aufzubauen und zu speichern. Diese Reservestoffe brachten ihnen Unabhängigkeit, da sie nun jederzeit über Energie verfügten. Die Zucker hatten jedoch einen gravierenden Nachteil, sie konnten auch von anderen Lebewesen verwertet werden. Dazu mussten diese nur lernen, wie die Zucker zur Energiegewinnung aufzuspalten sind. Eine Aufspaltung ist durch Verbrennung möglich. Der dafür erforderliche Sauerstoff war in zunehmenden Maße vorhanden, wurde er doch bei der Photosynthese von den Zuckerproduzenten produziert. Nun brauchte man noch einen Weg, um den Sauerstoff in den Organismus aufzunehmen, was tatsächlich einigen Bakterien gelang. Von da an wurden die Zucker und mit ihnen die Zuckerproduzenten zur heiß begehrten Beute.

Die als Beute auserkorenen Cyanobakterien, nicht dumm, taten sich zusammen, um den anderen das Beutemachen zu erschweren. Größere Räuber hatten am ehesten eine Chance, in diese Trutzbünde einzudringen. Voraussetzung war allerdings, dass sie selbst über die Fähigkeit verfügten, die erbeuteten Zucker in Energie zu verwandeln. Es zeigte sich, dass die einfachste Lösung dieses Problems darin bestand, Bakterien, die diese Fähigkeit entwickelt hatten, in den eigenen Zellaufbau zu integrieren. Derart aufgerüstete Räuber wurden zu einer großen Gefahr für die fleißigen Cyanos. Es war höchste Zeit, dass sie sich ebenfalls etwas Neues einfallen ließen. In ihren Kolonien lebten größere Bakterien, die die Fähigkeit zur Photosynthese erlangt hatten. Diese als Grünalgen bezeichneten Bakterien waren schon wegen ihrer schieren Größe schwerer angreifbar. Außerdem trennten sie sich im Prozess der Vermehrung nicht mehr völlig voneinander, so dass mehrzellige Gebilde entstanden, die den Räubern gut Paroli boten. Mehrzellige Organismen, die Zucker produzieren beziehungsweise die an dessen Produktion beteiligt sind, nennen wir Pflanzen. Nun waren wieder die Räuber am Zug. Sie bildeten ebenfalls mehrzellige Einheiten, die zu ganzheitlichen Organismen, Tiere genannt, heranwuchsen.

Die Entwicklung der Tiere vollzog sich anfänglich in zwei Richtungen. Die eine Gruppe war durch eine geringe Spezialisierung der beteiligten Zellen gekennzeichnet. Diese schwammartigen Gebilde bevölkerten vor 750 Millionen Jahren in großer Zahl die Ozeane. Sie bestanden aus Tausenden von Zellen, wuchsen auf Steinen und ließen durch unzählige Poren Wasser fließen, um Nahrhaftes herauszufiltern. Ihre Fähigkeiten gingen dabei kaum über die der Mikroorganismen hinaus. Trotzdem werden sie, da es mehrzellige Wesen waren, als erste Tierformen angesehen. Für die andere Gruppe wurde die fortschreitenden Spezialisierung der Zellen, die mit der Herausbildung von immer neuen Fähigkeiten einherging, charakteristisch. Unter diesen Fähigkeiten erlangte die Bewegung aus eigener Kraft besondere Bedeutung, da sie zur Grundlage für eine aktive Nahrungssuche wurde. Eine zielgerichtete Bewegung verlangt jedoch Informationen über die Welt, in der man sich bewegen will. Je flexibler die Bewegungen werden sollten, desto mehr Informationen wurden benötigt. Die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen kann daher als Gradmesser des evolutionären Fortschritts angesehen werden.

Unter den noch heute lebenden Arten gelten Quallen als die ältesten komplexen Tiere. Sie schwimmen schon seit 750 Millionen Jahren durch die Meere, wo sie mit Hilfe ihrer Tentakeln Kleinlebewesen fangen. Für die Jagd muss die Qualle die Aktivitäten verschiedener Zellen koordinieren. Einige sind für die Bewegung des Körpers, andere für den Einsatz der Tentakeln zuständig, wieder andere sichern die Orientierung in der Umwelt oder die Erzeugung des Gifts, das die Opfer lähmen soll. Wird nun von einer Sinneszelle das Auftauchen einer möglichen Beute signalisiert, dann müssen alle an der bevorstehenden Jagd beteiligten Zellen informiert, das heißt, in Bereitschaft versetzt werden. Diese Aufgabe übernehmen Nervenzellen, die in Form von neuronalen Netzen den ganzen Körper durchziehen. Ist die Beute in Reichweite, kann die Jagd beginnen, das heißt, die in Bereitschaft befindlichen Zellen werden in einer festgeschriebenen Abfolge zur Aktion veranlasst.

Ein Information – eine Reaktion, dieses einfache Schema war, wie man bei den Quallen sieht, überaus erfolgreich. Es hat den Nachteil, dass kein Raum für die Anpassung des Verhaltens an unterschiedliche Bedingungen bleibt. Für eine solche Anpassung braucht man Alternativen, das heißt auf eine Information sind mehrere Reaktionen möglich. Hat man Alternativen, muss man sich jedoch für eine von ihnen entscheiden. Dafür sind Informationen erforderlich, die eine Bewertung der vorgefundenen Situation gestatten. Es könnte allerdings sein, dass die gewonnenen Informationen nicht eindeutig, vielleicht sogar widersprüchlich, sind. Dann müssen sie erst einmal miteinander verglichen und bewertet werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Wenn sich die neuronalen Netze, wie bei der Qualle, über den gesamten Körper verteilen, sind für einen solchen Abgleich relativ lange Wege zurückzulegen, wodurch sich der Prozess verlangsamt und gleichzeit fehleranfällig wird. Vor rund 600 Milionen Jahren fanden urzeitliche Würmer eine Lösung des Problems. Sie nutzten nur einen Teil ihrer Nervenzellen für die Verteilung der Signale im Körper, während ein anderer Teil für die Verarbeitung der eingehenden Informationen zuständig wurde. Die von diesen gebildeten neuronalen Netze waren in einer kleinen Zentraleinheit, Gehirn genannt, konzentriert.

Weitere 60 Milionen Jahre später entstanden innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne viele neuartige Lebewesen, von denen einige bereits erstaunlich leistungsfähige Gehirne besaßen. Sie wiesen eine beachtliche Zahl von Nervenzellen auf, die in vielfältiger Weise miteinander verknüpft waren. Die Gehirne waren zu Schaltzentralen geworden, die eine ganze Palette neuronaler Netze verwalteten. Mit ihnen erlangten einige der frühen Tierarten eine beachtliche Flexibilität bei der Anpassung ihrer Bewegungen an unterschiedliche Bedingungen. Jede Bewegung ist allerdings in ein grundlegendes Verhaltensmuster, wie „Verfolgen“, „Einfangen“, „Fliehen“ oder ähnliches, eingebettet. Die Variationsbreite dieser Verhaltensmuster war noch sehr gering. Darüber hinaus waren sie direkt mit bestimmten Reizen von Sinneszellen verknüpft, so dass diesen Tieren nur wenig Spielraum für die Anpassung des Verhaltens an sich verändernde Gegebenheiten blieb.

In dieser Zeit entstand jedoch ein weiteres, eher unscheinbares Wesen, das den heutigen Neunaugen ähnelte. Es verfügte über ein aus Knorpeln bestehendes Stützsystem, eine zentrale Nervenbahn durch die Länge des Körpers und eine feste, das Gehirn schützende Schale. Dieses Wesen sollte zum Vorläufer der Fische und damit der Wirbeltiere werden, zu denen auch der Mensch gezählt wird. Ein Merkmal der Fische ist, dass sie sich alle räumlichen Dimensionen für eine zielgerichtete Bewegung erschließen können. Sie nutzen die Wirkungen der Gravitation, um oben und unten zu unterscheiden. Außerdem bildeten sie ein Vorn und ein Hinten, einen Kopf und einen Schwanz, sowie zwei beinahe gleiche Körperseiten aus, so dass jede Richtung für eine Bewegung eindeutig bestimmbar ist. Für die Ausschöpfung der entstandenen Möglichkeiten war jedoch eine Vielzahl von Informationen erforderlich, die nicht nur gewonnen sondern auch verarbeitet werden mussten. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, bildete ihr Gehirn drei spezialisierte Bereiche aus. Der Hirnstamm blieb für Herzschlag, Atmung und andere Vitalfunktionen zuständig. Er hat sich im Laufe der Evolution nur wenig verändert. Die beiden anderen Bereiche, das Kleinhirn, das die Bewegungen koordiniert, und das Großhirn, das die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet und Entscheidungen herbeiführt, machten dagegen in der Geschichte der Arten eine erstaunliche Entwicklung durch.

Doch der Reihe nach. In der nächsten Etappe eroberten sowohl Pflanzen als auch Tiere das entstandene Festland. Die Eroberer für die Tiere waren urtümliche Lurche, die sowohl im Wasser als auch an Land existieren konnten. Aus ihnen gingen die Reptilien hervor, die vor rund 300 Milionen Jahren ihren Siegeszug begannen. Im Laufe ihrer langen Geschichte waren die Reptilien immer wieder mit neuen Anforderungen konfrontiert, nicht zuletzt, weil ihre Welt vielgestaltiger wurde. Neuartige Pflanzen und Tiere, darunter gefährliche Räuber, entwickelten sich. Um in dieser Welt bestehen zu können, brauchten sie nicht nur mehr, sondern vor allem auch bessere Informationen, für deren Gewinnung komplexe Sinne entstanden. Für Saurier ist darüber hinaus charakteristisch, dass viele Arten in Gruppen zusammenlebten, in denen sich eine gewisse Rangordnung herausbildete. Das stärkste oder erfahrenste Tier führte die Gruppe an und setzte die überkommenen Regeln des Zusammenlebens durch. Wurde eine gemeinsame  Aktion erforderlich, zum Beispiel um Gefahren abzuwenden, dann musste das Leittier in der Lage sein, das Handeln der Gruppe zu koordinieren. In weit höherem Maße galt das für Arten, die gemeinsam jagden, da die Jagd ein schnelles und abgestimmtes Handeln aller Beteiligten erfordert. Für eine Abstimmung ist Kommunikation erforderlich, die sich vor allem über Botenstoffe, durch Laute oder mittels körperlicher Signale vollzog.

Es hatte schon vorher Tiere gegeben, die in Gruppen lebten, um auf diese Weise ihre Überlebenschancen zu verbessern. Fische zogen in Schwärmen durch die Meere, da sie auf diese Weise einen gewissen Schutz vor Angreifern gewannen. Im Schwarm gelten einfache Regeln – bleibt zusammen, stoßt nicht aneinander und bewegt euch wie die anderen. Für ein solches Miteinander ist nur wenig Kommunikation erforderlich. Bei den später entstandenen staatenbildenden Insekten kann man einen deutlich regeren Austausch beobachten, nicht zuletzt, weil diese Staaten durch eine innere Arbeitsteilung geprägt sind. Die Kommunikation erfolgt wiederum mit Hilfe von Botenstoffen und Tönen oder mittels Verhaltensweisen, denen eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist. Auf dieser Basis agiert solch ein Staat wie ein ganzheitlicher Organismus, mit dem Unterschied, dass er keine zentrale Steuerung kennt. Die Gruppen, in denen die Reptilien lebten, agierten dagegen unter der Führung eines Leittiers, das in der Lage war, Informationen aus der Umwelt zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen. In den Gemeinschaften der Reptilien gewann auch die Fürsorge für die Nachkommen an Bedeutung. Während anfänglich die Gelege meist sich selbst überlassen worden waren, übernahmen im Laufe der Entwicklung immer mehr Arten Verantwortung für den Schutz und die Versorgung der Nachkommen, auch, weil die dadurch mögliche Weitergabe von Erfahrungen überlebenswichtig geworden war.

Vor rund 65 Millionen Jahren ging die große Zeit der Saurier zu Ende. Vermutlich wurde die Erde von einer Katastrophe heimgesucht, die die Lebensbedingungen derart gravierend veränderte, dass ihnen keine Chance zur Anpassung blieb. Einige ihrer Verwandten, die Vögel, haben die von den Saurier hervorgebrachten Fähigkeiten bis in unsere Tage hinein bewahrt und weiterentwickelt. Vögel zeichnen sich durch ein komplexes soziales Verhalten, durch intensive Pflege der Nachkommen und hohe Intelligenz aus. Die eigentlichen Gewinner des Exodus der Dinos waren jedoch andere Verwandte, die Säugetiere. Sie krochen aus ihren Löchern und vermehrten sich fortan rasant. Immer neue Arten entstanden, die auch immer neue Lebensräume eroberten. Fast gleichzeitig traten die Blütenpflanzen ihren Siegeszug an. Man könnte sagen, die Welt der Lebewesen erfand sich neu.

Säugetiere zeichnen sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus. Auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung ist vor allem die sich vergrößernde Schicht von Neuronen zu nennen, die ihr Großhirn umhüllt. Die entstandene Großhirnrinde ist zwar sehr dünn, aber ihre Nervenzellen sind raffiniert miteinander verknüpft, so dass eingehende Informationen vielfältig kombiniert werden können. Mit dem daraus erwachsenden Potenzial wurde es unter anderem möglich, ein größer und komplizierter werdendes Geflecht sozialer Beziehungen zu beherrschen. Gemessen an vorangegangenen Perioden verlief die damit verbundene Entwicklung atemberaubend schnell. Bereits vor 40 Millionen Jahren lebten einige Säugetierarten in hochkomplexen Gemeinschaften. Die in diesen Verbänden erforderliche Kommunikation wurde wiederum mit Hilfe von Botenstoffen, Lauten, Gesten, Mimik und andere Körperzeichen gesichert. Durch eine verbesserte Gedächtnisleistung war es außerdem möglich geworden, die Mitglieder der Gruppe nach äußeren Merkmalen zu unterscheiden und ihnen Stärken und Schwächen zuzuordnen. Ein ganzes Geflecht sozialer Beziehungen entstand, das die Weiterentwicklung der Kommunikation erforderlich machte.

zuletzt geändert: 26.09.2019

vgl. GEO kompakt Nr. 33, Wie Tiere denken

Bild: harscher.de